Vom Nutzen und Nachteil der Wissenschaft für die Schule
Posted on | Juli 2, 2012 |
Es gibt viele Reformen im Bildungswesen. Viele halten sie für dringend geboten, manche beklagen sie, sprechen gar von einer ‚Reformitis‘. Nun, Reformen sind nicht gleich Reformen. Ich möchte hier drei Typen von Reformen unterscheiden: den pädagogisch didaktischen, den strukturellen und den gouvernementalen. Die Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, dass diese Reformen sachlich nicht zusammengehören könnten und nicht in einander greifen würden. Aber sie haben doch ihre je eigene Logik und werden von den Beteiligten und Betroffenen auch unterschiedlich wahrgenommen. Wie komplex der Zusammenhang der verschiedenen Typen ist, das beschreibt etwa das über 400seitige Gutachten „Qualität entwickeln – Standards sichern – mit Differenz umgehen“ (Bonn, Berlin: 2008). Es wurde im Auftrag der schweizerischen EDK, der deutschen BLK und des österreichischen Bildungsministeriums von Jürgen Oelkers, Kurt Reusser u.a. erarbeitet und stellt das nötige Ineinandergreifen verschiedener Reformarbeiten dar, die mit der Einführung von Bildungsstandards verbunden werden sollen, damit sie schulpraktischen Sinn machen. Was dort im Zusammenhang dargestellt ist, wird in der Praxis als eine Vielzahl je einzelner Reformen wahrgenommen. Diese haben unterschiedliche Träger und Verantwortliche, finden zeitlich versetzt statt und betreffen auch je unterschiedliche Menschen. So wurden die Bildungsstandards von fachdidaktischen Konsortien im Auftrag der EDK entwickelt, die Sprachregionalen Lehrpläne von beauftragten Lehrplankommissionen der regionalen EDKs, ihre Inkraftsetzung und Einführung von den kantonalen Bildungsadministrationen, ihre Umsetzung von Schulteams, das Bildungsmonitoring von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, um nur einige zu nennen. Es ist nicht einfach, weder für Lehrpersonen noch für Politik und Öffentlichkeit, dieses ganze Netzwerk überhaupt wahrzunehmen und in seinen Abhängigkeiten zu verstehen, zumal keine einheitliche Gesamtverantwortung für die verschiedenen Projekte besteht oder erkennbar ist. Umgekehrt fehlt manchen Akteuren der oberen Steuerungsebene oft auch der Blick und die Zuständigkeit für die Vielzahl von Folgearbeiten und nötigen Entwicklungen, welche mit kompetenzorientierten Lehrplänen zum Beispiel verbunden sind, wenn sie denn praktische Wirkung haben sollen.
Pädagogisch didaktische Reformen verändern den schulischen Unterricht, die praktische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen an den Schulen direkt und gehen auch oft von engagierten Lehrpersonen, Schulleitungen und praktisch arbeitenden Pädagogen aus. Manche dieser Reformen werden unterstützt und gefördert, sie werden weiterentwickelt und propagiert von der Bildungsverwaltung. Solche Reformen verlangen vielfach eine innere Umstellung von eingespielten und eingeübten Verhaltensweisen. Umgesetzt werden sie nur dort, wo innere Überzeugungen für sie sprechen. Dann gibt es einen Typ, den ich strukturelle Reformen nennen möchte. Es sind Reformen, die verändern die Rahmenbedingungen des Unterrichts und der pädagogisch erzieherischen Arbeit. Auch sie erfordern eine Veränderung eingespielter Verhaltensmuster, Verfahrensweisen und Erwartungen von vielen Beteiligten. Weil sich die Einzelnen solchen Reformen nicht entziehen können, haben sie einen gewissen Zwangscharakter und sind entsprechend umstritten. Ihre Wirkung auf Unterricht und Erziehung ist indirekt und die mit ihnen verbundenen Absichten sind fragil, weil der Zusammenhang zwischen Strukturen und menschlichem Verhalten und Befinden nicht so ist, dass Erfolg und Misserfolg von den Strukturen allein abhinge. Strukturelle Reformen haben deshalb auch ganz unsichere Erfolgsaussichten. Schliesslich gibt es die gouvernementalen Reformen. Sie verändern die Art und Weise, wie Politik und Administration die Schule steuern und kontrollieren. Von diesen Reformen soll hier die Rede sein, zumal sie in letzter Zeit vermehrt in die Kritik geraten sind. Besonders prominent nachzulesen etwa in dem neusten Positionspapier des LCH zur Steuerung von Qualität im Bildungswesen, welches am 16.06.2012 von den Delegierten in St. Gallen verabschiedet wurde (PDF) Beispiele für solche Reformen sind etwa die Einführung von teilautonomen und geleiteten Schulen, die Aufhebung des personenbezogenen Schulinspektorats zugunsten von externen Schulevaluationen, das Bildungsmonitoring oder eben auch die Einführung von Bildungsstandards und die regelmässige vergleichende Überprüfung, ob und inwieweit diese auch erreicht werden. Solche Reformen verbessern zunächst weder Unterricht noch Schule. Sie verbessern allenfalls die Steuerung von Unterricht und Schule, auch wenn sie in der Absicht unternommen werden, Schule und Unterricht selbst zu reformieren. Entsprechend distanziert stehen ihnen die Akteure der schulischen Praxis vielfach gegenüber.
Natürlich sind auch gouvernementale Reformen angebracht und vielfach nötig. Wir haben zweifellos eine enorme Steigerung der sozialen Komplexität in unseren Gesellschaften, hervorgerufen einerseits durch Mobilität und Globalisierung, andererseits durch Individualisierung und kulturelle wie soziale Heterogenität. Für Politik und Administration hat dies die Folge, dass ihre Autorität (natürlich nicht nur ihre, sondern überhaupt jede institutionelle oder Amtsautorität) sich abschwächt. Der Bereich dessen, was selbstverständlich, allgemein anerkannt und plausibel für alle oder doch für eine grosse Mehrheit ist, schwindet dramatisch. Der Begründungs- und Erklärungsbedarf für Entscheidungen im Bildungsbereich nimmt stetig zu, die Gründe für diese oder jene Option vermehren sich ebenso stetig wie die Überzeugungskraft der Begründungen im Einzelnen schwindet.
Politik und Verwaltung reagieren auf die Steigerung solcher Komplexität ihrerseits mit einer Steigerung der Komplexität ihrer Steuerungsinstrumente. Sie tun das mit Hilfe der Wissenschaft und der Schaffung immer komplexerer Entscheidungsprozesse. Ich will das etwas illustrieren. Nehmen wir zunächst, was heute „evidence based educational policy“ heisst, und von unseren Verwaltungen wie ihr Mantra beschworen wird. Evidence based policy meint, dass politische und administrative Entscheidungen und Reformen nur auf der Grundlage von wissenschaftlich methodisch erhobener Daten getroffen und in Gang gesetzt werden sollen und dass deren Erfolg oder Misserfolg ebenso methodisch, stetig und systematisch überprüft werden müsse. Es ist dies eine Variante jenes Management über Kennzahlen, wie es heute in Wirtschaftsunternehmen üblich und auch an Hochschulen gebräuchlich geworden ist. Die Wissenschaften, die dazu bemüht werden, sind nicht die reflektierenden und verknüpfenden der alten artes, der philosophischen Fakultät, sondern die messenden und zählenden der Sciences.
Nun erfordert aber schon die Beschaffung der Daten vielfach eine Intervention in das System dar. In manchen Fällen müssen für die Beschaffung verlässlicher Daten den Schulen Vorgaben gemacht werden, etwa einheitliche und überprüfbare Ziele wie Bildungsstandards, Vergleichstests, standardisierte Lernaufgaben und dgl. mehr. Weil solche Vorgaben in ihrer grossen Mehrheit dem Zweck möglichst verlässlicher Daten dienen, erfolgt ihre Entwicklung und Implementation aus diesem primären Interesse. So wurden zum Beispiel die operationalisierten Lernziele in den dreissiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA im Rahmen der ersten grossen vergleichenden Langzeitstudie zur Qualität von Schulen auf einer behavioristischen lernpsychologischen Grundlage entwickelt und eingeführt. Man wollte die Lehr- und Lernleistungen von Schulen über mehrere Jahre vergleichen. Um sie vergleichen zu können, wurden diesen zunächst überprüfbare und messbare gemeinsame Ziele vorgegeben, eben die operationalisierten Lernziele. Wie weit die Schulen diese Ziele erreichten, konnte dann exakt gemessen werden. Später wurden diese operationalisierten Lernziele zu Instrumenten erklärt, die auch für die Unterrichtsvorbereitung von Lehrpersonen geeignet, ja unentbehrlich seien und entsprechend im grossen Stil in Lehreraus- und -weiterbildung eingeübt. Ähnliches gilt auch für das europäische Sprachenportfolio, das zur international vergleichenden Einstufung von Sprachkenntnissen entwickelt wurde und nun als Vorgabe für die Entwicklung von Kompetenzmodellen der neuen Lehrpläne propagiert und genutzt wird. In nur leicht abgewandelter Form wiederholt sich dieser Reformverlauf wohl auch für die Bildungsstandards.
Mit den gewonnenen Daten lassen sich weitere administrative Eingriffe und Reformen besser begründen und rechtfertigen. Die Bildungsadministration erhält mit den Zahlen und Messwerten ein breites und schlagkräftiges Arsenal an Argumenten für den schwieriger gewordenen Kampf um öffentliche Anerkennung und Akzeptanz ihrer Reformen. Dadurch wird die Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen nicht einfacher, sondern komplexer. Wissenschaft steigert die Komplexität der sozialen Wirklichkeiten, sie reduziert sie nicht. Denn die ‚Wahrheit‘ statistisch erhärteter Mittelwerte entspricht in vielen Fällen nicht oder nur sehr bedingt der subjektiv wahrgenommenen und gefühlten Wirklichkeit. Unter dem Title „Die Illusion der Statistiker“ konnten wir kürzlich in der NZZ eine Kritik des Mathematikers Thomas Jahnke an den international vergleichenden Schülerleistungstests wie PISA und dem medialen Hype um deren Ergebnisse lesen. Zahlen sind eben keine Fakten, wie Eugen Garfield, der englische Begründer des Science Citation Index es pointiert formulierte, sie bedürfen der Ergänzung mit Lebensbedeutungen. Auch werden Zahlen nur allzu oft durch immer neue, andere Zahlen oder andere, bisher übersehene Aspekte der Wirklichkeit wieder revidiert und überholt. Deshalb gewinnt eine data based policy nur scheinbar sichereren Boden. Solch scheinbare Sicherheit einer scientifisch aufgerüsteten Bildungsverwaltung und -politik wird zur Bedrohung des Rechtes auf das eigene subjektive Welterleben. Es stehen sich dann eine instrumentell und methodisch aufgerüstete Empirie und eine ‚sanftere Empirie‘, wie Goethe die Wirklichkeitswahrnehmung mit ‚unbewaffneten‘ Sinnen genannt hat, gegenüber.
Die andere administrative Steigerung von Komplexität geschieht durch Steigerung und Formalisierung direkter Kommunikation und persönlicher Meinungsbildung. Ein Beispiel dafür sind die neuen Evaluations- und Qualitätssicherungsmassnahmen oder die Schaffung von Schulleitungen als neue Ebene der Entscheidung. Es sind dies Prozesse der Professionalisierung, die man auch als Antwort auf gesteigerte Differenzierungserwartungen verstehen kann. Wenn der neue Schulleiter individuelle Personalgespräche führt und Leistungsvereinbarungen mit seinen ihm unterstellten Lehrpersonen trifft, wenn der alte Schulinspektor durch das externe Evaluationsteam ersetzt wird, und seine zufälligen Wahrnehmungen durch standardisierte, objektivierte und systematische Portfolios, Berichte und methodisch kontrollierte Feedbacks, dann ist das zweifellos ein Fortschritt in der Professionalisierung von Schulführung und Schulaufsicht. Dass diese auch die Interaktion zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler verbessere, die Lehr- und Erziehungsprozesse, bleibt zunächst Versprechen, es steigert aber den Bedarf an formaler Interaktion und erhöht die öffentliche Sichtbarkeit der Anstrengungen. Ut aliquid fieri videtur, lautete ein durchaus honoriger Grundsatz antiker Staatsführung und ärztlicher Kunst zur Mobilisierung der Selbstheilungskräfte im System.
So hält die Komplexitätssteigerung der Bildungsadministration Schritt mit der eingangs konstatierten Steigerung sozialer und kultureller Komplexität durch Individualisierung und Globalisierung. Das Problem dabei ist nur, dass solches Wettrüsten die Probleme eher verschärft als dass es sie löste. Es fördert einen Wettbewerb des gegenseitigen Überbietens und schürt den Verdacht, dass es den je andern nicht um die Sache gehe, sondern nur um ihre eigene Selbstbehauptung. Wenn kürzlich der Staatssekretär des neuen Bundesamtes für Bildung, Wissenschaft und Innovation, Mauro Dell‘ Ambrogio auf die Frage, was er als die grösste Gefahr im Bildungswesen ansehe, spontan äusserte, die Entfremdung der Akteure, dann trifft das den hier beschriebenen Sachverhalt exakt, ein wachsendes Misstrauen gegenüber der anderen Meinung im Rahmen einer sich steigernden Komplexität der Probleme und ihrer möglichen Bearbeitung. Niklas Luhmann hat im Vertrauen den massgeblichen Mechanismus zur Reduktion von sozialer Komplexität gesehen. Vertrauen redzuziert soziale Komplexität, Vertrauensverlust steigert sie. Weil wir nicht hoffen können, durch Steigerung von Komplexität die Probleme, welche durch diese Steigerung entstehen, auch überbietend zu lösen, bleibt uns nur die Hoffnung auf die Restitution von Vertrauen und Respekt vor dem andern und seiner Meinung.
Kurz, der Zugewinn an Wirklichkeitswahrnehmung, der mit einer vermessenden Beschreibung unserer Bildungslandschaft gewonnen wird, muss, um nützlich zu sein, in einer neuen Anstrengung kommunikativer Verständigung in Vertrauen transformiert werde.
Rudolf Künzli
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