Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Das Dilemma nationaler Schulpolitik in Zeiten von PISA und Kompetenzorientierung

Posted on | Mai 7, 2013 |

Kürzlich hat das Züricher Obergericht die Klage einiger Privatschulen abgewiesen. Diese klagten gegen eine Anweisung der Erziehungsbehörden, dass künftig keine Kinder  sesshafter Schweizer  Familien in fremdsprachige Schulen, die sich nicht an die geltenden Zürcher Lehrpläne halten, aufgenommen werden dürfen.

Bemerkenswert an dem Urteil ist zweierlei, a) seine juristische Begründung und b) deren Aufnahme durch die Erziehungsbehörden des Kantons.

Das Gericht hielt fest, auch Privatschulen hätten sich am kantonalen Lehrplan zu orientieren. Es stützt sich dabei auf Bestimmungen des Volksschulgesetzes.  Eine anschliessende, weiterführende Ausbildung der Jugendlichen in der Schweiz sei nur so hinreichend gesichert. Das Gericht begründete seinen Entscheid dann auch damit, dass der Staat ein Interesse daran habe, den hier lebenden Kindern die nationale Kultur, die kantonalen Eigenheiten und insbesondere die deutsche Sprache vertieft zu vermitteln.

Der Entscheid bestätigt und stärkt die rechtliche Stellung und Geltung des kantonalen Lehrplans als verbindliches Dokument für alle Beteiligten im Schulfeld, Behörden, Lehrerschaft und Eltern. In seiner Begründung betont das Gericht vier Aspekte, die im Umkehrschluss auch als Anforderung an Lehrpläne gelesen werden können: (1) Lehrpläne sollen die Kontinuität des Weiterlernens ermöglichen, d.h. Lehrpläne einzelner Bildungsstufen müssen den Übergang in die nächst folgenden und umgekehrt den Anschluss an die vorausgehenden Schulen sicherstellen, also dem Gesamtsystem der Bildungseinrichtungen eines Landes verpflichtet sein, bzw. Rechnung tragen. (2) Sie müssen für die Vermittlung der Landesprache besondere Vorsorge treffen. (3) Lehrpläne sollen die Vermittlung der nationalen Kultur sicherstellen und (4) auch eine Einführung in die kantonalen und regionalen  Eigenheiten vorsehen.

Während die beiden ersten Aspekte unbestritten sein dürften, scheinen drei und vier weniger überzeugend und auch reichlich diffus in einer Gesellschaft mit wachsender kultureller Heterogenität und globaler Orientierung von Markt und Lebensweisen. Zumindest stellen sich hier drei Fragen an: a) was könnten solche Elemente nationaler Kultur und kantonaler Eigenheiten denn sein, b) erfüllen Lehrpläne solche Ansprüche wirklich und c) in wie fern sind das heute noch gerechtfertigte Ansprüche und Erwartungen?

Bei Elementen der nationalen Kultur wird man zunächst an die nationale Geschichte und nationales Brauchtum denken, an das politische System und allenfalls kulturelle Akzente in Literatur, Sach- und Wirtschaftskunde. Seit das öffentliche Bildungssystem zur staatlichen Aufgabe geworden ist und Staaten sich als Nationalstaaten verstanden haben und weiterhin verstehen, ist die Schule immer auch als Instrument der Förderung eines nationalen Bewusstseins genutzt worden. Dieser Erziehungs-,  oder wenn man lieber will, Bildungsauftrag der Schule hat sich bisher auch gegen noch so globale Kompetenzanforderung der Arbeitsmärkte und transnationale politische Einigungs- und Versöhnungsprojekte behauptet. Besonders ausgeprägt ist das dort zu beobachten, wo nationale oder regionale Identitäten erst noch aufgebaut werden wollen oder sich gegen transnationale und überregionale Vereinnahmungen zu behaupten versuchen, wie z.B. in Südosteuropa.

Sollten die Richter hier an einen Lehrplan gedacht haben, in dem eine nationale Leitkultur sich abbilden müsse, dann geriete dieses Argumgent, einmal abgesehen von der konkreten Schwierigkeiten, eine solche in einer offenen Gesellschaften noch zu behaupten, unter das Verdikt, Teil einer ‚violence symbolique‘ zu sein, welche Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in dem französischen Bildungs-, oder hier besser Indoktrinationsprogramm in den 1970er Jahren schon zu erkennen glaubten.

Nun fällt allerdings auf, dass die für das Gericht wesentlichen nationalen und regionalen Kompetenzen, nicht zu denen gehören, die in internationalen Schulleistungstest überprüft werden und deren Ergebnisse mancher Orts als Qualitätsmassstab für das eigene Bildungssystem gehandelt und beschworen werden. Sie gehören auch nicht zu den nationalen Bildungsstandards, die in den verschiedenen Ländern in den letzten Jahren entwickelt wurden.  Man muss sich im Gegenteil bei diesen Grundkompetenzen in den Bereichen, Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen fragen, was an ihnen denn überhaupt national sein könnte oder gar sollte.

Dass man sie beharrlich trotzdem national heisst, muss wohl andere Gründe haben. Kleinere, vernachlässigbare Besonderheiten wie etwa das höhere Gewicht der Orthographie, welches die romanisch sprechenden Kantone in der Schweiz in den nationalen Sprachstandards für ihren Bereich gegen die grössere Fehlertoleranz der deutsch sprechenden Regionen durchsetzen, sind wohl keine hinreichende Begründung des Nationalen oder des Regionalen.  Und überhaupt zeigt ein Vergleich der Lehrpläne weltweit im Kernbereich der geforderten Kompetenzen nur geringe Differenzen. Eigentlich kann das Argument des Gerichts, sofern es sich auf Lehrpläne und curriculare Vorgaben stützt, kaum als sehr überzeugend gelten.

Anders verhält es sich gewiss mit aussercurricularen Bestimmungen wie der Regelung für Ferienzeiten und Feiertage, oder neuerdings so kuriose Verpflichtungen über den Anteil mundartlicher Kommunikation im Kindergarten. Mit curricularen Besonderheiten hat das nur sehr wenig zu tun.  Auch wo auf regionalen Eigenheiten curricular beharrt wird, wie etwa beim Hauswirtschaftsobligatorium, wird man kaum schulpolitischen Eckwerten sprechen können, die eine Schulzulassung hinreichend begründen könnten. Hinter dem Erlass der Bildungsdirektion des Kantons Zürich scheint deshalb kaum das im Urteil angemahnte inhaltlich curriculare ‚nation building‘ zu stehen.

Und die Reaktion der Bildungsdirektion auf den Entscheid des Gerichts scheint etwas anderes anzudeuten. Die Bildungsdirektion plädiert nun nämlich für eine, wie sie das nennt ‚einfache Umsetzung‘. Damit meint sie, so die Erklärung der stellvertretenden Generalsekretärin,  es liege in der Eigenverantwortung der Privatschulen, dass diese in Zukunft nur Kinder aufnehmen, deren Eltern glaubhaft versicherten, ihren Wohnsitz ins Ausland zu verlegen. Die  Bildungsdirektion werde das nur im Rahmen der jährlichen Berichterstattung der Schulen überprüfen, will heissen: wir werden da nicht so genau hinsehen. Ganz offenkundig scheint die Bildungsdirektion von ihrem Erlass und dessen nun gerichtlich vorerst geklärten Geltung selber nicht ganz überzeugt zu sein, entweder weil sie diesen Regionalismus in der Schulpolitik selber für gestrig hält und den Erlass als Konzession an eine konservative Klientel versteht, oder weil sie selber nicht an die national prägende Wirkung ihrer eigenen kantonalen Lehrpläne glaubt oder schlicht, weil sie eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit in der Sache scheut, die ein Streit mit international ausgerichteten Privatschulen nach sich zöge. Aber Regelungen zu erlassen, die man weder durchzusetzen gewillt noch fähig ist,  kann kaum kluge Politik genannt werden. Sie bedient bestenfalls populistische Kräfte und untergräbt die Grundlagen guter Herrschaft.

Das Ganze ist ein auch schönes Beispiel für jene Symbolpolitik, die in Sachen Schule und Bildung eine letzte Klammer zwischen globalen Anforderungen und lokaler, nationaler und regionaler Selbstbehauptung zu bilden scheint.  Dazu passt denn auch der neueste Beschluss des kantonalen Parlamentes im Tessin, den Schweizerpsalm, die nationale Landeshymne für alle Schulen zum obligatorischen Lernstoff zu erklären. Ich möchte das eine ornamentale Schulpolitik nennen. Sie verfehlt das Wesentliche, indem sie einen Schein von Zuständigkeit in der Sache krampfhaft aufrecht zu erhalten sucht.

Aarau im Mai 2013
Rudolf Künzli

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