„Dass einer fiedelt, soll wichtiger sein, als was er geigt“
Posted on | Januar 13, 2014 |
Nachgetragene Gedanken zur Kompetenzorientierung
In mancher Hinsicht lässt sich der Streit um das Konzept der Kompetenzorientierung der berühmten Kontroverse der Musikpädagogen in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts vergleichen. Ein Vergleich lohnt sich deshalb, weil er zeigt, dass unsere heutigen Kontroversen so neu nicht sind, wenn sie auch in neuer Gestalt und anderem kulturellen wie sozialen Kontext daher kommen, und er uns die Komplexität und Vielschichtigkeit solcher Auseinandersetzungen vor Augen führen kann. Und – was das Wichtigste dabei ist – wir haben mit Th. W. Adorno vielleicht einen der unbestechlichsten und scharf-sinnigsten Kultur- und Sozialphilosophen als Vordenker und Gesprächspartner zur Seite. Sein intellektuelles Niveau allerdings wird in der Debatte nur schwer zu erreichen sein, aber das beklagten schon seine Zeitgenossen und Kritiker aus der Musikszene. Adornos Kritik betraf ein seit der Jugendbewegung in schulischen wie ausserschulischen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen vorherrschendes musikerzieherisches Konzept, das in der Musik vorrangig eine pädagogische, kultische und gemeinschaftsbildende Kraft sieht und auf solche Verwendbarkeit setzt.
Freilich kann ich den Vergleich in diesem Blog bloss andeuten und nicht ausführen. Ich verstehe ihn deshalb nur als Hinweis an jene, die sich über die blossen Tagesaktualitäten hinaus für die soziologischen und kulturphilosophischen Hintergründe des Themas interessieren und sich nicht mit der immer wieder erstaunlichen historischen Selbstvergessenheit unserer Disziplin zufriedengeben wollen. Ihnen kann ich nur raten, lesen Sie Adorno!
Wer die 1955 erschienene „Kritik des Musikanten“1 mit Blick auf gegenwärtigen Debatten auch zwischen den Zeilen zu lesen vermag, wird reich belohnt:
a) Er wird aufmerksam auf den ideologisch politischen Unterton und Hintergrund von ‚neutralen‘ anthropologisch oder kognitions- und lernpsychologisch abgestützten pädagogischen Konzepten insbesondere dort, wo solche sich mit populären und eingängigen Vorstellungen verbinden. Beides trifft auf das musikpädagogische Konzept der Singbewegung, der Spielkreise und des Laienmusizierens in den ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und das aktuelle Konzept der Kompetenzorientierung zu. Wie bei der Singbewegung handelt sich auch hier um eine internationale ‚pädagogische Bewegung‘. (Siehe dazu meinen Beitrag: Kompetenzen in Lehrplänen – eine hoffnungsfrohe Systemreform ). Es scheint mir wichtig, dies festzuhalten. Denn die Kritik am theoretisch unausgereiften Konzept der Kompetenzorientierung erreicht seine soziale Vitalität und Wirkungsmächtigkeit kaum. Sie nährt sich aus der Gleichsetzung mit der geradezu selbstverständlichen Erwartung, dass wer etwas lernt, dann auch etwas kann.
b) Eine solche Gleichsetzung deckt alle Differenzen im Können zu, reduziert sie auf ein Machen-Können, auch Vorstellen, Verstehen und Erkennen werden dann reduziert auf ein Zeigen-können. Und so wird über solche Gleichsetzung die dominante Erwartung, dass Schule verwendbare Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln habe, transportiert. Die klassische curriculare Frage von H. Spencer: What knowledge is of most worth? legt in solchem Verständnis das gesellschaftlich verfügbare Wissen allein noch auf die Waage der Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Welches Wissen in der Schule vermittelt wird, hängt dann von der Antwort auf die Frage ab, welches am besten zum Erwerb einer Kompetenz taugt. Wie sehr die Ideologie der Verwertbarkeit und Brauchbarkeit die gegenwärtigen schulischen Bildungskonzepte bestimmt, zeigt sich auch in der Rede vom ‚trägen‘ oder vom ‚toten‘ Wissen, welche mit einer praktizistischen Schrumpfform des konstruktivis-tischen Lernparadigmas Schule gemacht hat. Wer dabei an ‚totes Kapital‘ denkt, liegt nicht falsch! Die Assoziation entlarvt die zugrunde liegende ökonomische Sicht. Dem ‚Scheinrevolutionären‘ der Sing- und Jugendbewegung, das Adorno konstatiert (Adorno 1973, 89), entspricht das ‚Scheinmoderne‘, in Wahrheit aber Reaktionäre der Kompetenzbewegung.
c) Die Kompetenzorientierung reduziert tendenziell die gesellschaftlichen Funktionen von Schule auf deren wirtschaftlichen und politischen Nutzen, jedenfalls werden deren personale Leistungen nachrangig. Viel mehr als die Vermittlung der klassischen Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen und Messen (siehe PISA) scheinen in einem so verstandenen Enkulturationskonzept kaum noch Platz zu haben. In Abwandlung des berühmt gewordenen Satzes aus der ‚Kritik des Musikanten‘: „Der Begriff des Musikanten aber meint insgeheim bereits den Vorrang des Musizierens über die Musik; dass einer fiedelt, soll wichtiger sein, als was er geigt“ (Adorno 1973, 75), könnte man formulieren: ‚Der Begriff des kompetenten Schülers aber meint insgeheim bereits den Vorrang des Könnens über die Kultur; dass einer etwas kann, soll wichtiger sein, als was er versteht‘. Es offenbart sich darin eine kulturelle Selbstvergessenheit, welche Entwicklung und Bildung als individuelle Schöpfung ex nihilo begreift und sich bzw. den Schülern die Auseinandersetzung mit dem erreichten Stand zivilisatorischer und kultureller Leistungen und Güter glaubt ersparen zu können oder zu müssen. ‚Kulturelle Objektivationen‘ hat W. Dilthey den Bestand des Zu-Meisternden genannt, die geisteswissenschaftliche Pädagogik nannte sie dann ‚Bildungsinhalte und Bildungsgehalte‘.
d) Bildungsinhalte zu Vehikeln des Könnens zu degradieren, widerspricht nicht nur jeder Idee von Bildung, sondern auch dem Selbstzweck der Individuen. In diesem Sinne widersprach Adorno einem musikpädagogischen Konzept, welches Musik wegen ihrer sozialisierenden und gemeinschaftsbildenden Kraft in den Dienst von Erziehung stellte (Adorno 1973, 27ff.). Es sind die kulturellen Schöpfungen selbst, die zivilisatorischen und technischen Errungenschaften, die grossen Rahmenerzählungen unserer physischen und sozialen Herkunft, die grossen Irrtümer, Erfahrungen und Erkenntnisse, denen sich zu stellen hat, wer auf der Höhe seiner Zeit leben möchte, an deren Zumutungen sich abarbeiten muss, wer die Freiheit des Selberdenkens und –bestimmens erreichen will, welche Bildung verspricht. Die Bildungsinhalte selbst stellen ihren Bildungsanspruch, nicht wir haben sie auf ihren Nutzen abzuklopfen. Wer sich nicht einlassen kann oder darf auf ein Gedicht, sich nicht versenken in die offenbaren Geheimnisse der Metamorphosen und der Photosynthese, die Gesetzmässigkeit der Bewegung der Gestirne, nicht grübeln über einem mathematischen Rätsel, sich dem Grauen und den Folgen der Schlacht bei Marignano und des zweiten Weltkrieges nicht aussetzen oder den Gründungsmythos des Rütlischwurs und die Geschichte der Alpenquerung erkunden, der wird nichts von dieser Welt, vom Menschen und seinen Möglichkeiten und Grenzen, seiner eigenen Herkunft und Prägung verstanden haben. Zu welchem Ergebnis solche Auseinandersetzungen führen, muss aber um der Freiheit der Individuen willen letztlich offen bleiben. Oder um es mit einem auf Bildung statt Kunst abgewandelten Satz aus Schillers 2. Brief ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ zu formulieren: „…; denn die Bildung (Orig. Kunst) ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschriften empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menscheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das grosse Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen.“2 Die Indienstnahme von Kultur zu pädagogischen Zwecken und die Unterwerfung schulischer Lernprozesse unter den Massstab ihrer Verwertbarkeit sind der penetrante Sound des hohen Liedes von den Kompetenzen.
e) Die kulturelle Selbstvergessenheit dieser Bewegung hat ihre Entsprechung in der Selbstermächtigung ihrer lehrplanenden Akteure. Und hier wiederholt sich curriculare Geschichte. In ganz analoger Weise hatte sich in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die letzte grosse Lehrplanreform, die Curriculum-Bewegung, an die Arbeit gemacht, um in eingebildeter szientifischer und administrativer Selbstherrlichkeit kulturelle und schulische Traditionen durch curriculare Konstruktionen zu ersetzen. In seiner wunderbar polemischen Habilitationsschrift „Vermittlung als Gott“ hat Chr. Türcke 19853 die philosophischen und theologischen Hintergründe und Grundlagen einer Didaktik freigelegt, die glaubt, Tradition und Kultur seien ihre beliebig disponiblen Ressourcen, die auf ihre Bemächtigung nur warteten. Die Curriculum-Bewegung hat sich übernommen.
Das vielleicht grösste Versäumnis der Projektverantwortlichen des Lehrplan 21 ist es, dass sie nicht erkannt haben, bzw. vielleicht auch gar nicht sehen wollten, wie sehr die Kompetenzorientierung die Grundlagen des kulturellen Selbstverständnisses der Gesellschaft tangiert, und in dieser Blindheit auf ein fachliches Projektmanagement vertrauten, das seine professionelle Arbeit abseits demokratischer Meinungs-bildungsprozesse und öffentlicher intellektueller Auseinandersetzungen durchziehen zu können nicht bloss glaubte, sondern dies als Markenzeichen ihres neuen ‚modernen‘ und ‚professionellen‘ Verständnisses von Lehrplan und Lehrplanarbeit begriff. Aber ihr selbstverliebtes Lehrplangefiedel wird der komplexen Partitur unserer Schulen nicht gerecht.
Aarau, 13. Januar 2014
Rudolf Künzli
1 Erschienen in der Sammlung musikpädagogischer Schriften unter dem Titel „Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt“ bei Vandenhoeck & Ruprecht (5. Aufl. 1991). Jetzt auch in Adorno, Th. W. (1973). Gesammelte Schriften: 14 (67-107). Frankfurt: Suhrkamp.
2 Schiller, Fr. (1795/1966): Über ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Zweiter Brief. dtv-Gesamtausgabe Bd. 19 5-95, 7. München.
3 Türcke, Chr. (21994). Vermittlung als Gott. Metaphysische Grillen und theologische Mucken didaktisierter Wissenschaft. Springe: zu Klampen Verlag
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