Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Der Slogan von den MINT-Fächern

Posted on | Dezember 7, 2012 |

Seit rund drei vier Jahren ist MINT in vieler Munde. Man fasst mit dieser Abkürzung den Bereich der Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zusammen. Vor allem im Zusammenhang mit Nachrichten über einen Fachkräftemangel und einen Mangel an Frauen ist von MINT-Berufen die Rede. Es ist zwar nicht so klar, was alles dazu gehört und was nicht, um einen Mangel in diesem Bereich zu beheben, sei jedenfalls möglichst frühzeitig das Interesses an MINT- Themen und MINT-Berufen erforderlich, insbesondere bei Frauen. Der schweizerische Bundesrat hat dazu ebenso einen Bericht mit Empfehlungen verabschiedet wie das deutsche Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung , beide kräftig sekundiert durch die Industrie und Gewerbeverbände. Nun, dieser Fachkräftemangel soll hier nicht Thema sein, obwohl es sich auch lohnte, mal genau hinzusehen, wo und wie gross denn die Lücken sind, die zu füllen wären, zumal wir aus berufenem Munde hören, Lücken auf dem Arbeitsmarkt machten noch längst keinen nachhaltigen Bedarf aus. Hier interessiert die Zuspitzung dieser Diagnosen auf sogenannte MINT-Berufe, die nach den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik benannt sind.

In mehrfacher Hinsicht ist diese Zusammenfassung der MINT-Fächer problematisch. Sie hat keine hinreichende sachliche Grundlage.

Zunächst aber irritiert bei dieser Zusammenfassung der Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik die Wiederkehr einer längst obsolet gewordenen Rede von den zwei Kulturen, einer literarisch intellektuellen und geisteswissenschaftlichen einerseits und einer naturwissenschaftlich-technischen andererseits. Der englische Physiker Charles. P. Snow hat sie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine gesellschaftskritische These formuliert. Irritierend daran ist vor allem, dass diese Gegenüberstellung in vielfacher Weise durch die Entwicklungen in den Wissenschaften selber überholt ist. Der Wissenschaftssoziologe Rudolf Stichweh hat dazu in der FAZ vom 02.12.2008 einen schönen Artikel geschrieben: Man denke an die Sozialwissenschaften, an die Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel, aber auch an die Psychologie und viele mehr, deren Forschungsmethoden weitgehend einen  mathematisch-statistischen Unterbau haben. Mit der Rede von den MINT-Berufen wird das verdeckt und ein kulturelles Stereotyp bedient. Das Stereotyp bedient ein anderes naheliegendes populäres Werturteil, das mit MINT nicht bloss die harten, die wirklichen Wissenschaften, den weichen und – wie wir kürzlich aus dem Munde eines Erziehungsdirektors auch hören mussten – die ‚unrentablen‘ Disziplinen gegenüberstellt. Kurz, es sind fatale Konnotationen, die mit der Rede von den MINT-Fächern transportiert werden. So wichtig und nötig die Anstrengungen sind, die unter diesem Namen laufen, so sozial- und kulturpolitisch schädlich ist der Slogan von den MINT-Fächern.

Problematisch ist die pauschale Rede von den MINT-Fächern auch deshalb, weil sie jenes Stereotyp verstärkt, das als Barriere vielen Frauen den Weg in diese Berufe erschwert hat und erschwert. Sie signalisiert einen kulturellen Graben, den es hier zu überspringen gelte und verleitet leicht zu einer zumindest schiefen Diagnose des Frauenmangels in bestimmten Berufen. So ist etwa Psychologie ein besonders beliebtes Fach bei Frauen, obwohl seine heutigen methodischen Grundlagen ein gerüttelt Mass an Mathematik und Statistik erfordern. In der Medizin ist eine Mehrheit der Studierenden weiblich. Soll man nun annehmen, die Medizin oder auch die Pharmazie, für die das gleiche gilt, seien keine naturwissenschaftlichen Fächer oder Berufe?  Ich frage mich, ob mit der Rede von den MINT-Fächern nicht gerade ein Stereotyp verfestigt wird, das im Hinblick auf einen erhofften höheren Frauenanteil abgebaut werden müsste.

Das Stereotyp wirkt auch in der umgekehrten Richtung. Denn analoge Überlegungen drängen sich auf mit Blick auf viele neue IT basierte Berufe, die sich kaum auf Mathematik und Informatik reduzieren lassen. Die Swisscom sucht Mediamatiker, die sprachlich und kommunikativ ebenso versiert und kompetent sind wie technisch mathematisch. Wir sollten aufhören, von den MINT-Berufen zu reden, wenn wir deren Nachwuchs verbreitern möchten. Wir müssten viel eher die ganzheitlich fachliche und berufliche Breite dieser Berufe in ihrer heutigen Gestalt betonen. Mediamatik ist eben kein MINT-Beruf, weil mit dieser Bezeichnung die ebenso wesentlichen ‚weichen‘ Kompetenzen ausgeblendet sind. Vergleichbares gilt z.B. auch für Architekten oder für  Pharmavertreter.

Auch im Hinblick auf die Förderung des frühen Interesses an MINT-Fächern ist die Zusammenfassung diagnostisch wertlos, wenn nicht gar hinderlich. Denn lerntheoretisch wie kognitions- und erkenntnistheoretisch sind die hier zusammengefassten Disziplinen von ganz unterschiedlicher Qualität. Ausserhalb dem genannten gesellschaftlichen Stereotyp von den harten und den weichen Fächern gibt es nur wenig, was die Interessenentwicklung für diese Fächer gemeinsam bestimmte. Es ist ja wenig wahrscheinlich, dass, wer Interesse findet an der Konstruktion eines Elektromotors auch gleich sich begeistern kann für das Sezieren von Kuhaugen oder das Lösen von mathematischen Rätseln.  Auch wer begeistert mit Turtle Geometrie komplexe Körper und Figuren auf dem PC programmiert, wird deshalb nicht auch mit gleicher Freude das ökologische Gleichgewicht am Schulteich beobachten.  Zwar sind solche Kombinationen individuell keineswegs ausgeschlossen, natürlich kann ich auch gleichzeitig mit Freude und Engagement mir meine eigene kleine Sternwarte einrichten und mit Hingabe meine Zeit dem Klavierspiel und dem Studium des Kontrapunktes widmen, aber dass solcher Ausprägung von Interessen auch eine kohärente emotionale und kognitive Grundlage entsprechen würde, ist wenig wahrscheinlich.  Auch wenn Schule und Unterricht immer in der einen oder andern Weise mit Transfer rechnet, so ist dieser doch ein höchst fragiles Theorem. Für die Annahme jedenfalls, dass wir mit einem den MINT-Fächern inhärenten Interessentransfer rechnen könnten, weil die Entwicklung dieser Interessen einem gleichen Muster gehorchten, besteht wenig Anlass. Kurz, das Interesse an MINT ist eine sachlich nicht gerechtfertigte Fiktion, das Interesse an MINT ist in viele verschiedene Interessen aufgefächert.

Will man also fördern, was hier pauschalisierend als MINT-Bereich apostrophiert wird, muss man sich auf ganz unterschiedliche Interessen und ihre Entwicklung einstellen. Statt von der Förderung der MINT-Fächer zu reden,  wäre man wohl besser beraten, man stützte sich dabei auf einigermassen theoretisch ausgewiesene Konzepte, wie das der multiplen Intelligenzen zum Beispiel von Howard Gardner und förderte gezielt die verschiedenen grundlegenden Intelligenzen. Auch wäre zu beachten, dass das Interesse an einzelnen Fächern noch längst keine Berufswahlentscheidung ist.  Die Wahl eines sogenannten MINT-Berufes braucht ebenso wenig ein besonderes Interesse an einem MINT-Fach vorauszusetzen wie umgekehrt das besondere Interesse an Mathematik in einen MINT-Beruf führen muss. Dass wir den Fachkräftemangel im Bereich der Elektrotechniker, Informatiker oder der Maschinenbauer mit einer gezielten Frühförderung eines fiktionalen Interesses an MINT beheben könnten, gehört wohl bald eher zu einer der vielen bildungspolitischen Illusionen, mit denen die Geschichte unserer Schule gepflastert ist, zumal der Arbeitsmarkt noch nie ein guter schulpädagogischer Ratgeber war. Heute sollen es die Informatiker sein, aber morgen sind es vielleicht die Gesundheits- und Pflegeberufe, wenn sie es nicht schon heute sind, die Mangel leiden. Vielleicht sollten wir doch eher dem alten Rat des Gründervaters pädagogischen Disziplin, Johan Friedrich Herbart, vertrauen und seinem Konzept des erziehenden Unterrichts und demgemäss ganz auf die Entwicklung der Vielseitigkeit des Interesses setzen. Da haben das Messen und Vergleichen, das Konstruieren und das Kommunizieren, das Experimentieren und das Reflektieren, das Phantasieren und Beobachten, das Lesen und das Rechnen, das Spekulieren und das Spielen, das Tanzen und das Werken alle gleichermassen Platz. Nachhaltigkeit sollte nicht bloss in der Wald- und Energiewirtschaft gelten, sondern vielleicht mehr noch in der Bildung und hier weniger als Thema, sondern als ein auf diese selbst angewendetes Prinzip bei der Programmplanung.

Rudolf Künzli
Aarau im Dezember 2012

 

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