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Irrlichternde Bildungsvision eines Liberalen

Posted on | Dezember 19, 2013 |

Notizen zu „Unterwegs zur Bildung“  von Robert Nef in NZZ 12.12.2013 S. 23

Es ist nicht ganz einfach herauszufinden, wovon in dem Artikel genauerhin die Rede ist. Der Untertitel qualifiziert Europas ‚vorherrschenden Bildungsbegriff’ als ‚politisch aufklärerisch‘, welcher näherhin als ‚Bildung zur Selbstverwirklichung, Bildung als Emanzipation‘ bezeichnet wird. Das wird dann auch gleich noch an ‚Kompetenzen‘, die ‚auf gesellschaftspolitische Zielvorstellungen abgestimmt‘ sind, festgemacht. Das ist eine ziemlich interessierte Bündelung von Aspekten, die zum einen versucht, den für den europäischen  Bildungsbegriff konstitutiven staatsliberalistischen Gedanken eines Humboldt und eines Zschokke aus dem vorherrschenden Bildungsbegriff herauszufiletieren, was diesen dann auch leichthin  in eine ‚gesellschaftpolitisch linke Ecke‘  stellt. Der ehemalige Herausgeber des ‚schweizer monat‘ präpariert sich so seinen Gegenstand zum ‚linken‘  Konterpart seiner eigenen liberalistischen Weltsicht. Dass der Begriff der ‚Kompetenzen‘ auch diesem ‚linken‘ Bildungskonzept zugerechnet wird, verwundert denn doch etwas, kommt dieser doch aus dem Bereich beruflicher Qualifizierung einerseits und einer empiristisch pragmatischen Psychologie der Leistungsmessung und des personal assessments andererseits. Und er ist schliesslich der Schlüsselbegriff des OECD-Konzepts des lebenslangen Lernens  bereits im Bericht von Jacques Delors und dann weiter im UNESCO Projekt ‚Definition and Selection of Competences‘ (DeSeCo). In der laufenden Diskussion gelten Kompetenzen und Bildung in vieler Hinsicht im Gegensatz dazu als geradezu komplementäre, wenn nicht gegensätzliche Konzepte.

Der erste Absatz des Artikels von Nef findet wohl über alle gesellschafts- und bildungspolitischen Positionen hinweg vorbehaltlose Zustimmung. Aber schon im nächsten Absatz beginnt ein wahres Verwirrspiel des Autors mit der Bildung, der Schulbildung, der Ausbildung und der Menschenbildung. Die Sätze erhalten je einen anderen Sinn, wenn man sie auf die Lern- und Bildungsprozess von vier bis 10 oder 12 Jährigen, von 12 bis 18 Jährigen bezieht oder auf ältere. Sie erhalten auch einen je anderen Sinn, ob von einer allgemeinen schulischen Grundbildung die Rede ist, von einer wissenschaftlichen Grundbildung, einer Berufsbildung, einer akademischen Berufsbildung oder einer höheren Berufs- und Weiterbildung, ganz zu schweigen von einer allgemeinen Persönlichkeitsbildung.

Was soll in einer bildungspolitischen Kolumne ein Satz heissen wie dieser: „Wer lebenslänglich lernt, muss auch lebenslänglich bereit sein, seine Erfahrungen und sein Wissen weiterzugeben“? Soll der 55-Jährige Betriebsleiter die Weiterbildung für seine jüngeren Berufskollegen organisieren und durchführen? Und ist das wirklich eine Frage des „Bereit-seins“ oder vielleicht doch besser des „Dürfens und Könnens“? Meint der Hinweis auf den zweiten Bildungsweg in einem Bildungssystem, in dem rund 80% der Jugendlichen mit 16 Jahren einen beruflichen Bildungsweg einschlagen, dass auch die übrigen 20%, bevor sie weitere schulische, gar staatliche – horribile  dictu – ,  Einrichtungen besuchen, einen beruflichen Bildungsweg einschlagen sollen, um dann  die Matura und allfällige Hochschulbildungen auf dem zweiten Bildungswege erwerben sollten? Weiss der Autor überhaupt, wie viele diesen zweiten Bildungsweg in unserem System schon gehen, über Berufsmatura, über Erwachsenenmatura, über Berufswechsel und höhere Berufsbildungen? Oder sind diese Bemerkungen bloss für einige unserer südeuropäischen Nachbarn geschrieben?

Wie seltsam verengend und schief der Autor unser Bildungssystem beschreibt, zeigt sich etwa in der Bemerkung, dass es auch „in Zukunft Institutionen, ….  Schulen und Hochschulen“ … „im herkömmlichen Sinne“  geben werde, in denen „professionell ausgebildete  Lehrpersonen, … sich hauptberuflich der Menschenbildung widmen“.  Was für eine Beschreibung des gesellschaftlichen Auftrages unserer Schulen und Hochschulen, in denen doch u. a. auch Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt und gelernt wird, oder u.a. auch Maschinenbauer, Architekten, Informatiker,  Mediziner und Cellisten, Sozialarbeiter und – nochmals  horribile dictu – Lehrerinnen  und Lehrer ausgebildet werden.

Dann möchte man dem Satz „Aus liberaler Sicht beruht Bildung auf einer geglückten Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden“ ja gerne zustimmen, stünde da nicht die Einschränkung „aus liberaler Sicht“.  Warum denn aus liberaler Sicht und ausgerechnet aus liberaler Sicht? Wo, so fragt man leicht irritiert,  wo wäre denn jener liberalpolitische Autor im Sinne von R. Nef, der dazu Wesentliches gesagt und formuliert hätte, dass man diese Sicht seiner Gruppierung zuschreiben dürfte oder müsste? Es scheint vielmehr, dass der Autor nicht gesucht hat oder hat suchen wollen, wo diese seine ihm „unmittelbar einleuchtende Umschreibung von Bildung“  sich in der Fachliteratur hätte finden lassen. Mir jedenfalls fallen dazu eine eine ganze Reihe von Autoren und bildungstheoretischen und erziehungspraktischen Positionen ein, für die diese Umschreibung nicht bloss zutrifft, sondern mehr noch Grundlage ihrer Konzeption ist und war. Nur sind das kaum Autoren und Positionen,  die der Gründer des ‚Liberalen  Instituts‘  wohl als ‚liberal‘ bezeichnen würde. Leonard Nelson z. B., der Kantianer, bekennende Sozialdemokrat und Begründer der sokratischen Methode oder der symbolische Interaktionismus von George H. Mead und dessen viele pädagogische Variationen und Anwendungen, oder die erkenntnis- , bildungs- und gesellschaftstheoretische wie -praktischen Auslegungen des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas, das Konzept der themenzentrierten Interaktion der humanistischen Psychologin Ruth Cohn, von Hermann Nohls ‚pädagogischem Bezug‘, Otto Friedrich Bollnow ‚pädagogischer Atmosphäre‘  und Martin Bubers ‚dialogischem Prinzip‘ ganz zu schweigen. Von kaum einer anderen Idee war die Pädagogik und Bildungspolitik der so genannten 68er in ihren vielen Variationen stärker geprägt als von der Idee geglückter symmetrischer Kommunikation zwischen Alten und Jungen, Erwachsenen und Unerwachsenen, Erfahrenen und Unerfahrenen, Kennern, Könnern und Anfängern usw..  Wenn Robert Nef all diese ausgearbeiteten Varianten bildender Kommunikation nicht meint, was meint er dann?

Zur konservativen Sicht der Bildung weiss der Autor dürftig wenig zu sagen. Er braucht sie wohl bloss dafür, seiner eigenen so verstandenen liberalen Sicht eine politische Mitte zu sichern.

Was er dann einem in Europa ‚vorherrschenden Bildungsbegriff politisch aufklärerischer Provenienz‘ zuschreibt und im ‚politischen Koordinatennetz  «Mitte Links»‘ positioniert, enthält dann so ziemlich alles, was an Clichées zur Charakterisierung  einer zentralstaatlich organisierten Bildungspolitik planwirtschaftlich herzustellenden und zu sichernden Bildungsgerechtigkeit und Förderung individueller Selbstverwirklichung abseits marktwirtschaftlicher Lebensrealität zur Verfügung steht.   Die Kompetenzen, die da in den Plänen und Programmen dieser Bildungspolitiken festgeschrieben seien, würden nicht primär auf die jeweiligen wirtschaftlichen Arbeitsmarktbedürfnisse, sondern  auf gesellschaftspolitische Zielvorstellungen abgestimmt. Die wirtschaftliche Realität habe sich dann in erster Linie den Zielen und Plänen der Bildungspolitik anzupassen und nicht umgekehrt. So laute das ambitiöse Programm einer öffentlich organisierten und finanzierten Bildungsvermittlung, die sich auf den Primat der Politik abstütze. Leider unterlässt es der Autor auch hier, uns mit dem einen oder andern Beispiel etwas Hilfestellung zu geben bei der Suche nach den Wirklichkeiten, die er meint. So bleiben wir ratlos und suchen vergeblich, wo ein solch vorherrschender Bildungsbegriff in Europa sich breitgemacht hätte.  Auch fragt sich der Leser, ob denn das liberale Bildungskonzept der geglückten Kommunikation zwischen Gleichberechtigten von Herrn Nef primär auf die Befriedung und Befriedigung der schnell sich verändernden Arbeitsmarktbedürfnisse ausgerichtet ist oder sein müsste. Wo, so fragt man sich weiter, hätte sich ‚die wirtschaftliche Realität … in erster Linie den Zielen und Plänen einer solchen Bildungspolitik‘ angepasst? Wo hätten sich denn die Realität der wirtschaftlichen Globalisierung und gesellschaftlichen Mobilität den pädagogischen und bildungspolitischen  Vorgaben gebeugt oder beugen müssen, wo wären die Finanzmärkte deren Empfehlungen gefolgt, wo hätte sich der technologische Fortschritt nach den vorherrschenden Bildungskonzepten gerichtet? Freilich aus der Perspektive des Autors könnte man die grassierende Bildungspolitik vielleicht doch noch für den demographischen Wandel verantwortlich machen, hat diese doch unsere Frauen aus dem Kreisssälen in die Hörsäle und schliesslich auf die quotierten Vorstandssessel unserer börsenkotierten Unternehmen getrieben.

Die Einladung zum offenen Wettbewerb der Ideen beim erforderlichen Umbau auch unserer Bildungssysteme, für die Nef im nächsten Abschnitt plädiert, möchte man gerne annehmen. Freilich wünschte man sich, dass solcher Wettbewerb auf der Grundlage von minimaler Welt- und Sachkenntnis erfolgte und ohne ausschliessende Konditionen und Festlegungen, vielleicht gar annähernd herrschaftsfrei, gutwillig und unvoreingenommen. Nur unterstreichen kann man dann den Satz ‚Wer Bildung vermittelt, muss selbst bereit sein, permanent zu lernen, und das Wagnis einzugehen, bleibende Werthaltungen an immer wieder neue Herausforderungen anzupassen‘.  Das gilt freilich auch für die Verfechter der bleibenden Werte des Liberalismus.

Aarau, 12. 12.2013

Rudolf Künzli

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