Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Ordnung – das curriculare Prinzip der Verlässlichkeit

Posted on | August 20, 2013 |

Klare fachliche und methodische Strukturen sind vielleicht das wichtigste Qualitäts-kriterium eines Lehrplanes. Sie sichern die Anschlussfähigkeit des Lernens und die räumliche, aber auch die geistige Mobilität der Schülerinnen und Schüler. Ein Lehrplan unter dem Signum einer Harmonisierung des Schulsystems soll ja nicht bloss den möglichen Umzug der Eltern mit Kindern erleichtern, er sollte vor allem dem Weiter-lernen und der geistigen Mobilität der Schülerinnen und Schüler eine sichere Grundlage geben. Ihr wesentliches Element ist eine intersubjektiv tragfähige Ordnung der Welt-erfahrung, des Wissens und Könnens, wie fachlich begrenzend eine solche auch immer sein mag.  Man nannte intersubjektiv bewährte Wissens- und Könnensordnungen mal ‚Disziplinen‘, dass dieser Grundbegriff europäischer Schulkultur im Lehrplan 21 nicht vorkommt, ist zumindest bemerkenswert. Einer der wohl schärfsten Analytiker und Kritiker herrschender Wissensstrukturen, der französische Philosoph Michel Foucault, hat nicht nur deren Macht- und Herrschaftscharakter, den der Soziologe Pierre Bourdieu eine ‚violence symbolique‘ nannte, er hat auch die kulturelle Produktivität solcher das Handeln und Denken begrenzender und einschränkender Ordnungen des gesellschaftlichen Diskurses betont. Und für Friedrich Herbart gehörte eine wohl strukturierte Darstellung der Welt gar zum ‚Hauptgeschäft der Pädagogik‘. Er nannte es eine ‚ästhetische Darstellung der Welt‘ und meinte damit eine Darstellung, die etwas sichtbar macht, die zeigt, was sich nicht von selber zeigt, eine die verstehbaren Strukturen freilegende Darstellung. Allein in einem solchen Rahmen ist ein individueller Kompetenzaufbau intersubjektiv und das heisst kulturell weiterführend.

Fachbereiche oder Schulfächer sind so etwas wie ‚Schubladen‘, die wir unseren Kindern anbieten, ihre Welterfahrungen zu verorten. Man kann auch sagen, sie sind so etwas wie ‚Brillen‘, die ihnen in der Schule aufgesetzt werden, durch die sie fortan die Welt betrachten oder mit Goethes Faust zu reden die ‚spanischen Stiefel‘, in die ihre Einbildungskraft eingeschnürt wird. Man hat deshalb zu Recht davon gesprochen, dass in ihnen eine „Ordnung der Vorstellungswelt“ vorgegeben wird und in ihnen einen eigentlichen „Denk- und Handlungsrahmen“ erkannt. Dass ein solch wohlgeordneter Blick auf die Wirklichkeit diese eben nicht abbildet, sondern eingrenzt,  ja sie beschönigt und ihr nicht gerecht wird, ist dann auch im günstigen Falle der Grund für jene bildenden Krisen, in denen wir erkennen und erfahren, dass die Welt nicht so ist, wie wir glaubten, dass wir kulturelle Wahrnehmungsbrillen tragen.

Indessen, die wohlgeordnete Struktur der Fächergliederung ist nichts Geringeres als der curriculare Ausdruck erzieherisch pädagogischer Verlässlichkeit, eine Grundbedingung gedeihlichen Aufwachsens. Sie ist ein Gebot ‚curricularer Voraussicht‘, wie es der Kieler Pädagogik Professor Werner Loch genannt hat, als Gewährleistung der Anschluss- und Zukunftsfähigkeit des Lernens.

Wie steht es nun um das Prinzip der Verlässlichkeit im Lehrplan 21? Auf vier Aspekte der  Gliederung der Grundbildung im Lehrplan will eingehen: auf den Fachbereich ‚Natur-Mensch-Gesellschaft, den  Fachbereich ‚Gestalten, den Fachbereich ‚ICT und Medien und schliesslich auf die überfachlichen Themen, die unter der Leitidee ‚Nachhaltige Entwicklung zusammengefasst sind.

‚Natur,  Mensch und Gesellschaft‘ – ein wenig überzeugendes Konstrukt

Zu den eher fragwürdigen Schultraditionen, welche der Lehrplan21 aus einigen kantonalen Lehrplänen übernommen hat, gehört der Fachbereich ‚Natur, Mensch und Gesellschaft‘.

„Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit der Welt in ihren natürlichen, technischen, historischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen und geistigen Dimensionen mit ihren je eigenen Phänomenen und Prozessen auseinander. Sie erweitern ihre Kenntnisse und Fertigkeiten, die es ihnen ermöglichen, sich in der Welt zu orientieren, diese immer besser zu verstehen, sie aktiv mitzugestalten und in ihr verantwortungsvoll zu handeln.“ (Einleitung S. 2) 

Mit dieser ganz wunderbar umarmenden, bedeutungsschweren und schmiegsamen Lehrplanrhetorik werden der Fachbereich und seine besonderen Aufgaben vorgestellt. Aber, setzen sich denn die Schülerinnen und Schüler in den andern Fachbereichen nicht auch mit der Welt auseinander, in den ‚Sprachen‘, der ‚Mathematik‘, der ‚Musik‘, dem ‚Gestalten‘ oder dem ‚Sport‘? Geht es da nicht auch um Weltverstehen, um Orientierung, um aktives Mitgestalten und Verantwortung? Sind diese Fachbereiche weniger welthaltig?

Als Fachbereich fällt ‚Natur, Mensch, Gesellschaft‘ aus dem Rahmen der andern fünf Fachbereiche der Grundbildung. Er ist aus einem Zusammenzug verschiedener Fächer entstanden und könnte ebenso gut in der Gruppe der fächerübergreifenden Themen stehen. In den ersten beiden Lernzyklen werden die Themen beschrieben und sollen die hier anvisierten Kompetenzen integral aufgebaut werden, im dritten Zyklus (Oberstufe) werden sie in vier Teilbereiche (1) Natur und Technik, (2) Wirtschaft, Arbeit, Haushalt, (3) Räume, Zeiten, Gesellschaften und (4) Ethik, Religionen, Gemeinschaft ausdifferenziert.

Diese Zweistufigkeit im Aufbau hat den Vorteil, dass in den ersten beiden Lernzyklen die Lebenswelt der Kinder und deren Erfahrungen noch ganzheitlich thematisiert und bearbeitet werden können. Ein solcher Ausgangspunkt des Lernens von der Erfahrung der Kinder ist nicht bloss pädagogisch-didaktisch plausibel, sondern auch sachlich geboten. Der Aufbau entspricht alten  schulischen Traditionen. Dass die Kinder bei ihren Erfahrungen und ihrem Vorwissen abzuholen sind, ist unbestritten. Ob dieses lehrmethodische und lernpsychologische Gebot allerdings auch die curricularen Strukturen bestimmen soll, ist dagegen fraglich. Während der US-amerikanisch Progressivism und die deutsche Reformpädagogik  auf solche ‚child oriented‘ Curricula und Lehrpläne setzte, haben sich die traditionellen und die struktur- und wissenschaftsorientierten Schulen in ihren ‚subject oriented‘ Curricula und Lehrplänen an der gesellschaftlich anerkannten Wissensordnung orientiert.

Es ist bemerkenswert, dass einer der Gründerväter des ‚educational progressivism‘, der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey,  in seiner berühmten Studie ‚The child and the curriculum‘ eine curriculare Orientierung an den wissenschaftlichen Disziplinen mit der Notwendigkeit begründet, dass die Lehrerinnen und Lehrer sie benötigten, nicht um diese Wissenschaften den Kindern zu vermitteln, sondern um deren Fragen, Forschen und  Interessen angemessen deuten und  so unterstützen und lenken zu können, dass es einen Anschluss und eine Fortsetzung finde bei den akkumulierten Wissens- und Erfahrungsbeständen der Gesellschaft. Problematisch an einem ‚child oriented‘ Lehrplan ist so nicht etwa die Erfahrungsnähe und der ganzheitliche Ausgangspunkt des Lehrens, sondern eine fehlende Perspektive hin auf die gesellschaftlich etablierten Wissensordnungen und damit verbunden auf die gesellschaftlich approbierten Massstäbe und Normen der intersubjektiven Geltung und Wahrheit von Wissen und Erfahrung.  Gerade für einen langfristigen Kompetenzaufbau ist eine auch curriculare  Präsenz solcher Normen als  ‚ends in view‘ nötig.

Eine solche weiterführende curriculare Anschlussfähigkeit wäre mit der Aufteilung des gesamten Fachbereichs ‚Natur – Mensch – Gesellschaft‘ in zwei Bereiche, die im Angelsächsischen als ‚Humanities‘ und ‚Sciences‘ bezeichnet werden, zu erreichen.  Mit ‚Menschen in Raum und Zeit‘ und ‚Natur und Technik‘ z.B. hätten sich äquivalente Fachbereichsstrukturen bilden lassen, die dem Lernen und dem Kompetenzaufbau eine schlüssige Perspektive geben könnten. Zusätzlich entspräche eine solche Aufteilung auch dem Art. 3 des HarmoS-Konkordates. Bei den gegenwärtig grossen Anstrengungen den naturkundlichen und technischen Bereich der MINT-Fächer in der Schule zu verstärken, verwundert es, dass ‚Natur und Technik‘ in den ersten beiden Lernzyklen keinen eigenen curricularen Platz gefunden hat. Dabei wird doch zu Recht immer wieder betont, dass eine möglichst frühe Förderung hier besonders wirkungsvoll sei. In einem eigenständigen Bereich ‚Natur und Technik‘ ab dem ersten Lernzyklus wäre diesem Anliegen sicherlich besser gedient.

Die Ausdifferenzierung des Bereiches auf der Oberstufe macht einen auf Anhieb übersichtlichen und plausiblen Eindruck.  Bemerkenswert ist, dass auch ein neuer Bereich ‚Wirtschaft, Arbeit, Haushalt‘ eingeführt wird. Mit der Klammerbemerkung ‚(mit Hauswirtschaft)‘ wird an schulische Traditionen angeknüpft. In diesen Bereich gehörte sachlich eigentlich auch die Berufswahlvorbereitung. Aber auch ohne diesen Themenbereich stellt sich die Frage nach der angemessenen Ausbildung der Lehrerschaft, falls man ihn nicht auf verschiedene Lehrpersonen aufteilen will, was de facto in der Umsetzung dann doch wieder einer Aufteilung des Bereichs in zwei bis drei einzelne Schulfächer gleichkäme.

Gestalten

Wir fragil und uneinheitlich der Lehrplan 21 in dieser Frage ist, zeigt auch das Beispiel Gestalten. In  der Einleitung wird von einem Fachbereich Gestalten gesprochen, in dem die Kinder „ästhetische, bildnerische, gestalterische und technische Kompetenzen“ (S. 3) erwerben. Im Aufbau des Lehrplan 21 sind hingegen  über alle drei Lernzyklen hinweg zwei getrennte Fächer aufgeführt: ‚Bildnerisches Gestalten‘ und ‚Textiles und technisches Gestalten‘ (in Überblick und Anleitung S. 3). Der Lehrplan bleibt auch hier auf halbem Wege stehen, während er mutig textiles und technisches Gestalten zusammenführt, bleibt das bildnerische Gestalten in seiner angestammten Eigenständigkeit erhalten. Ob die curriculare Integration von textilem und technischem Gestalten Lehrplanrhetorik bleibt, wird von der integralen Ausbildung der Lehrpersonen und vom Aufbau einer entsprechenden Fachdidaktik abhängen.

ICT und Medien

Auch die Zuweisung des Themenbereichs ‚ICT und Medien‘ zu den fächerübergreifenden Themen ist zumindest fraglich. Natürlich ist es richtig, dass ICT und Medien auch für das Lernen in anderen Bereichen eine zunehmend bedeutsame Rolle spielen und so auch in verschiedenen Bereichen vermittelt werden können. Aber gilt das nicht auch für Sprachen? Ist das nicht gerade ein Indikator dafür, auch ‚ICT und Medien‘ zur schulischen Grundbildung zu rechnen und damit den andern sechs Fachbereichen gleichzustellen?  Was meint denn der Ausdruck ‚Grundbildung‘ anderes, als dass damit die Grundlagen für das Weiterlernen und den Erwerb weiterer Kompetenzen gelegt werden? Es geht bei ICT und Medien eben nicht um ein besonders aktuell sich aufdrängendes Lernthema, das wohl auch, aber das ist nicht der entscheidende Grund, den Bereich im Curriculum der Grundschule zu verankern, aktuelle Themen gibt es noch viele andere. Entscheidend ist, ob es sich bei den darin zu erwerbenden Kompetenzen um Elemente einer Grundvoraussetzung der Teilhabe an unserer Kultur und deren Weiterentwicklung handelt. Und dies ist hier zweifellos der Fall.

Das ist auch der Unterschied zu Themenbereichen wie z.B. ‚Berufsorientierung‘ oder ‚Gender‘, ‚Frieden‘ und ‚Wirtschaft‘. Es sind dies zweifellos bedeutsame Lern- und Erfahrungsfelder. Es sind aber eben Bewährungsfelder schulischer Grundbildung und nicht selber Teil dieser Grundbildung. Das macht einen entscheidenden Unterschied aus. Bei ICT und Medien handelt es sich um nichts Geringeres als die technologische Weiterentwicklung der Sprach- und Interaktionsfähigkeit des Menschen, sein eigentliches kulturelles Potential und Handwerkszeug. Sie sind zwingend ein Element schulischer Grundbildung. Erkenntnismethodisch und wissenstheoretisch wären sie als Teil des Fachbereichs ‚Sprachen‘  im curricularen Kanon einzuordnen, schulorganisatorisch nötig ist aber ihre Ausstattung mit Zeit und Ressourcen analog zu den andern Fachbereichen der Grundbildung.
Nachtrqg: 30.08
Die unsichere und ungeklärte curriculare Verortung des Fachbereichs ICT und Medien im Lehrplan 21 hat die Projektleitung nach rund sieben Jahren Entwicklungszeit veranlasst, eine Arbeitsgruppe zur Bearbeitung der offenen Fragen, ‚über welche man sich noch nicht habe einigen können‘, wie sich der Projektvorsitzende RR Amsler ausdrückte, einzusetzen. Aber bereits 2007 hatte die EDK ein Strategiepapier für den Bereich Informationstechnologie und Medien vorgestellt. Es scheint, dass dessen Konzepte nicht zur Klärung der anstehenden Fragen führten. Das Beispiel vermag das Vertrauen in die Planungsgrundlagen und die Verlässlichkeit des neuen Lehrplandokumentes nicht gerade zu fördern.

Bildung für Nachhaltige Entwicklung

Ganz anderer Art sind die unter der Leitidee Nachhaltige Entwicklung versammelten Themen. Ihr Zusammenzug ist auch gar nicht als Fachbereich ausgewiesen, weder mit eigenständigen Kompetenzen, noch erkennbar mit Ressourcen. Wie das ‚epochale Schlüsselproblem‘ (Wolfgang Klafki)  Nachhaltigen Entwicklung auch als erwerbbare ‚Schlüsselkompetenz‘ in die schulische Grundbildung pädagogisch – didaktisch eingebaut werden kann und soll, darüber ist dem kompetenzorientierten Lehrplan 21 kaum etwas zu entnehmen.

Problematisch ist eine derartige curriculare Unbestimmtheit solcher Themen ohne Ressourcen und Zielvorgaben auch deshalb, weil sie ein immer verfügbares und wohlfeiles Drohpotential darstellen, der Schule mal hier, mal da Versagen vorzuwerfen. Sie sind schlicht uferlos und damit gewiss kein Beitrag zur angestrebten Klarheit des Auftrags der Schule und der Lehrerschaft. Denn in der Schule, wie anderswo auch,  gilt die Vordringlichkeit des Bewerteten (Benoteten, Getesteten) oder Befristeten. Kurz, sie fallen in aller Regel unter den Tisch oder hier unter das Pult der Lehrenden und Lernenden, wenn immer anderes, Wichtigeres ansteht, und das ist praktisch immer der Fall.

Aarau, 20.  August 2013 Rudolf Künzli

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