Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

„…. und alle in gleichen Klamotten!“

Posted on | Februar 11, 2014 |

Nichts gegen Harmonisierungen im Bildungssystem. Es ist ja auch ein gutes Wort, meint Harmonie, nicht Zwang wie Zentralisierung zum Beispiel. HarmoS heisst denn auch das schweizerische Projekt koordinierter Schulpolitik, dem das Schweizer Volk in grosser Eintracht und Mehrheit zugestimmt hat. Aber dass es bei der Umsetzung dieser Harmonisierung sehr harmonisch und einträchtig zuginge, lässt sich nicht sagen, wenn man die vielen Einsprüche bedenkt, welche das  neueste Produkt dieser Anstrengungen, der Lehrplan 21, ausgelöst hat. Dabei geht es hier doch ganz wesentlich um den Kern, die Harmonisierung der kantonalen Volksschulen. Offenbar verstehen nicht alle das Gleiche unter einer ‚Harmonisierung’ des Bildungssystems.

Man denkt dabei ja doch zunächst an Strukturen und Rahmenbedingungen, die Angleichung der Pflichtstunden insgesamt und der Schulfächer im Einzelnen, die Gliederung der Schulstufen und –typen, die Abfolge der Schulfächer, der Fremd-sprachen zum Beispiel und den Verpflichtungsgrad der Lernbereiche und Angebote. Aber das wird im Lehrplan 21 nicht geregelt, das liefe auf Gleich-macherei hinaus, wie eine Bildungsdirektorin dazu meinte, auf eine unerwünschte Zentralisierung. Gleich gemacht werden sollen nicht die Gärten der kantonalen Bildungsdirektorinnen und -direktoren, vergleichbar gleich gemacht werden sollen bloss die Absolventinnen und Absolventen ihrer Anstalten. Und dazu wird der Auftrag an den Massstab angepasst, mit dem das Ergebnis solcher Angleichung gemessen werden kann und soll. Das ist die heimliche Botschaft und Absicht der Harmonisierung der Volksschule durch die neuen kompetenzorientierten Lehrpläne.

 Der pervertierte Bildungskanon

Harmonisiert werden hier nicht die Bildungsgänge, auch nicht das Bildungs-angebot, harmonisiert wird das Bildungsprodukt, der Out-put der Schule, die erwarteten Lernergebnisse, die zu erreichenden Kompetenzen. Man hält es hier wohl mit der EU und ihren Vermarktungsnormen, da werden auch nicht die Produktions- und Anbauformen geregelt, sondern die zum freien Markt zu- gelassenen Produkte mit maximaler Krümmung bei Gurken oder Mindestgrössen bei Nektarinen, Birnen oder Bohnen.

An die Stelle einer verpflichtenden Festlegung des Bildungsangebotes (Bildungs-kanon) tritt im Lehrplan 21 die Normierung der Lern- und Bildungsergebnisse. Die Fülle bedeutsamer kultureller und zivilisatorischer Leistungen verkommt zur okkasionell nutzbaren Reservatenkammer, aus der sich bedient, wer die markt-gängige Kompetenzsoftware programmieren muss. Die Inhalte tauchen allenfalls in Klammern und mit der Klausel „zum Beispiel“ auf, so „(z. B. Tell-Sage)“ als möglicher Lern- und Übungsstoff im Lernbereich ‚Natur, Mensch, Gesellschaft’, worauf ein anderer Bildungsdirektor stolz verweist. Und „die Antike“ oder auch „das Spätmittelalter“ kann dort z.B. abgerufen werden, um die „Machtverteilung an einem geschichtlichen Beispiel zu erklären“, „der böse Räuber im Kasperlitheater“ um „unter Anleitung typische inhaltliche Merkmale“ einer Textform zu erkennen oder die „Gentechnik“, um „sich angeleitet über die Bedeutung von Technik und naturwissenschaftlichen Anwendungen für den Menschen informieren“ zu können. Wie im Warenhauskatalog kommen sie daher, die Inhalte zur freien Auswahl und Bestellung in Wikipedia, in den Clouds jederzeit abrufbar, wo möglich.

Unter Geringschätzung des Bedeutungsreichtums und der Bedeutungsvielfalt jener Welt, die es nach Humboldt zu ergreifen gälte, werden die Stoffe und Inhalte auf ein administrativ und bildungsbürokratisch definiertes Kompetenzprodukt hin ausgerichtet. Und andere Assoziationen und Ansichten von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern unter Missachtung aller Individualität in Bildungsprozessen gar nicht erst ins didaktische Kalkül aufgenommen. So trans-formiert sich der klassische Bildungsgedanke einer humanen Perfektion in der Auseinandersetzung mit den Bildungsgütern unserer Zivilisation zur Perversion humaner Bildung als Produktion vergleichbarer auf dem Markt von Arbeit und Freizeit brauchbarer, verfügbarer und funktionierender Leistungsträger.

Die Schule als geistige Kopieranstalt und der Geist von copy & paste

Nun waren und sind der Hang und die Tendenz zur Normierung und Vereinheitlichung der Schule nie fremd. Im Gegenteil, der grosse französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in der Institution Schule jene ‚verhaltens-normierende Instanz‘ erkannt, der die Funktion zufalle, „bewusst (oder zum Teil auch unbewusst) Unbewusstes zu übermitteln oder, genauer gesagt, Individuen hervorzubringen, die mit diesem System der unbewussten (oder tief vergrabenen) Schemata ausgerüstet sind, in dem ihre Bildung bzw. ihr Habitus wurzelt. Kurz, die ausdrückliche Funktion der Schule besteht darin, das kollektive Erbe in ein sowohl individuell als auch kollektiv Unbewusstes zu verwandeln.“1

Freilich, die hier mit Habitus benannte Normierung erwächst aus der Auseinander-setzung mit den Bedeutungsgehalten des kollektiven kulturellen Erbes und nicht aus der Einpassung in die Vermarktungsnormen brauchbaren Könnens.

Dabei handelt es sich freilich nicht einfach um eine besondere Verirrung der Schulpolitik, diese folgt mit ihren Vorgaben lediglich einer kulturellen Trans-formation der Wissensproduktion und Wissensvermittlung gemäss den Regeln der grossen „Kopiermaschine Internet“.

„An den Universitäten setzt sich in der Lehre überall Routine und Vereinheit-lichung fest, weltweit werden dieselben Lehrbücher verwendet, die gleichen Folien präsentiert – und auf Abweichungen und Unterschiede hat kaum jemand Lust“, so diagnostiziert es kritisch der Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstitutes Thomas Straubhaar.2 Das neueste Vehikel solcher Vereinheitlichung heisst MOOC (massive open online courses). Straubhaar erkennt in dieser Vereinheitlichung einen auch wirtschaftlich längerfristig relevanten Verlust an Wettbewerbs- und Problemlösefähigkeit der Gesellschaft, wenn sich deren Innovationskraft allein noch auf das marktgängige Design von in der Substanz einheitlicher oder identischer Problemlösungen und Produkte verlegt. Der Geist des ‚copy & paste’ hat sich nicht bloss in den Keimbahnen wissenschaftlicher Arbeiten (in Form ihrer Plagiate) breit gemacht, sondern auch längst in den Produktionszentren einer neuen Medientechnologie, wie die gegenseitigen Urheberrechtsstreitigkeiten und Abschlagszahlungen der neuen Marktgiganten fast täglich belegen. Das Bedürfnis nach Orginalität und Authentizität erschöpft sich dann im Kult der  Replikate, im Konsum von Heritage- und Vintage-produkten.

 Die Lust am Gleichen

Die Skirennläuferin Maria Höfl-Risch wurde zur Fahnenträgerin der deutschen Olympiamannschaft in Sotschi gewählt. Sie war hoch erfreut über diese Wahl und meinte, dass ihr kalte Schauer über den Rücken laufen würden, wenn sie die deutsche Delegation voran ins Stadion führen dürfe. Und begeistert fügte sie hinzu: „und alle in gleichen Klamotten!“ Welch ein Ausruf! Woher kommt diese Lust am Gleichen? Nun, ich will hier keine massenpsychologischen Reflexionen über Uniformen und Gleichschritte anstellen. Ich nehme nicht an, dass unsere Bannerträger im Bildungswesen mit ähnlichen Empfindungen ihre Bildungsstandards, Kompetenzen und PISA-Ergebnisse in die bildungspolitische Arena tragen oder sie in der Pariser OECD-Zentrale präsentieren, aber man weiss ja nie.

Man sollte die Zürcher Bildungsdirektorin an ihr eigenes Wort erinnern, „es geht nicht um Vereinheitlichung!“, schon gar nicht der Schülerinnen und Schüler. Equity ist zwar eine strukturelle Bedingung einer humanen Schule, ihr Zweck aber ist im Gegensatz dazu Differenz, Kultivierung von Andersheit und Förderung von Besonderheit. Man sollte sich da auch nicht von der Papageienuniform der deutschen Olympiamannschaft in Sotschi leiten lassen.

[1] Bourdieu, P. Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. In. Drs.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. (S. 125-158, 139) Frankfurt: Suhrkamp 1970.
[1] Zit. in W. Lotter: Die Falschen und das Echte. brandeins 16. Jg. H.1 Januar 2014, S. 42-50, 50.

Aarau, im Februar 2014
Rudolf Künzli

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