Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Wohin soll die Reise mit der Volksschule gehen?

Posted on | Dezember 30, 2013 |

Fragen nach Abschluss der Konsultation zum Lehrplan 21. Versuch einer persönlichen Zwischenbilanz

Der Lehrplan 21 ist als ein Instrument zur Harmonisierung der kantonalen Schulsysteme gesellschaftlich und schulpolitisch hoch erwünscht. So wird er wahrgenommen. Neben der generellen Zustimmung zum Projekt werden allgemein das gute Design des Entwurfs gelobt und dass er elektronisch gut verfügbar ist. Auch die Kompetenzorientierung der Zielvorgaben wird im Grundsatz begrüsst.

Wenn man die staatsbürgerliche Zurückhaltung offizieller Stellen und Gremien bei der Kritik an andern Gremien in Konsultationen und Vernehmlassungen berücksichtigt, dann ist man aber dann doch überrascht vom Umfang und der Reichweite der Kritik am Lehrplanentwurf. Wenn man dann noch bedenkt, dass in einzelnen Kantonen, z.B. im Kanton Aargau, von 350 zur Konsultation angeschriebenen Organisationen, Parteien, Verbänden und Personen lediglich 70, wie ich lese, geantwortet haben und auch diese in der Mehrheit nur zu einzelnen Aspekten, so lese ich diese Zurückhaltung nicht als Zustimmung, im Gegenteil. Bei dem Thema muss man das als klare Botschaft verstehen, dass der Lehrplan 21 in der vorliegenden Form ein untaugliches Dokument für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über den Auftrag der Gesellschaft an unsere Schulen ist. Ich will hier nicht im Einzelnen wiederholen, was ich anderswo schon ausgeführt habe, den politisch strategischen Auftrag der Gesellschaft an die Schule und die verwaltungsorganisatorische und professionelle Auslegung dieses Auftrages in einem einzigen Lehrplandokument zusammenzufassen, ist eine überholte Vorstellung von Schulpolitik und moderner Schulgovernance.

1. Wie kommt es, dass der LP 21 bei aller grundsätzlichen Zustimmung doch so viel Kritik erfährt?

Verbände, Parteien und Verwaltungen zwischen Zustimmung, Erwartungen, Forderungen, Befürchtungen und Ablehnung

Der vorliegende Lehrplanentwurf hat eine sehr lange Entstehungsgeschichte. Es sind knapp 10 Jahre seit der Mandatierung zur Erarbeitung eines Entwicklungskonzeptes für einen sprachregionalen Lehrplan durch die D-EDK im März 2004. Doch bis zur dieser Mandatierung waren schon einige Jahre der Vorabklärungen verflossen. Parallel zur Mandatierung und in engem inhaltlichen und rechtlichen Zusammenhang dazu hat die EDK das Projekt zur Entwicklung und Erprobung von Bildungsstandards durchgeführt, die dann als verbindliche Grundkompetenzen für die Fächer Schulsprache, Mathematik, erste Fremdsprache und Naturwissenschaften im März 2010 beschlossen und zur Einarbeitung in die sprachregionalen Lehrpläne ‚freigegeben‘ wurden. Die Abstimmungen über den neuen Bundesverfassungsartikel und das HarmoS – Konkordat gehören in den gleichen schulpolitischen Kontext. In mehreren Schritten erarbeitete die mandatierte Projektgruppe der D- EDK einen ‚Grundlagenbericht‘, welcher die kantonalen Voraussetzungen für einen sprachregionalen gemeinsamen Lehrplan sichtete, die Ziele formulierte und zentrale Eckwerte definierte. Nach Diskussionen und Vernehmlassungen bei den Kantonen wurde dieser Bericht im März 2010 verbindlich beschlossen. Zusammen mit den erarbeiteten und von der EDK zur Einarbeitung in den sprachregionalen Lehrpläne ‚freigegebenen‘ Grundkompetenzen bildete er die Grundlage für die Erarbeitung einer ersten vorläufigen intern diskutierten und dann der vorliegenden nun öffentlich gemachten Fassung.

Trotz dieser langen und umsichtigen Planungs-, Entwicklungs- und Konsultationsphase stellt sich auch bei einem bloss oberflächlichem Blick auf die öffentlich vorliegenden Rückmeldungen der Eindruck ein, der Lehrplan 21 sei für grosse Teile der zur Konsultation eingeladenen Gruppierungen nicht befriedigend ausgefallen, und bemerkenswert häufig ist der Ruf nach nicht bloss ‚kosmetischen‘, sondern ‚substantiellen‘ Überarbeitungen zu vernehmen.

Ich denke, man kann diesen Umstand nicht an einzelnen Kritikpunkten allein festmachen und erklären. Vielmehr wird dahinter ein tiefer liegendes Problem des Projektes sichtbar. Mir scheint eine gewisse Unklarheit oder auch Uneinigkeit in der Zielsetzung des Projektes dafür mitverantwortlich zu sein und auch eine Unsicherheit und Ungewissheit über die praktische Umsetzung, die pädagogischen Folgen und die schulpolitischen Konsequenzen des ganzen Unternehmens vorzuliegen. Die offizielle Kommunikation aus dem Projekt wie aus den Konsultationen hat mit manchen vieldeutigen Aussagen diesen Eindruck bestätigt und verstärkt.

Über den klar kommunizierten Willen zu einem interkantonalen sprachregionalen Lehrplan hinaus fehlt eine ebenso klare strategische Zielvorgabe über die damit zu erreichenden Ziele und erhofften Wirkungen. Man wird den Eindruck nie ganz los, dass vielfach taktisch und auf Zeit argumentiert wird und wenig strategisch grundsätzlich:

Unterscheidungen zwischen Harmonisierung und Vereinheitlichung

Das gilt etwa für einen Kernbereich des Projektes, die Harmonisierung kantonaler Schulsysteme. Unterscheidungen zwischen Harmonisierung und Vereinheitlichung etwa im Bezug auf die Frage der Zahl der Fremdsprachen und der Reihenfolge ihrer Einführung oder die Angleichung der grossen Unterscheide bei den Stundentafeln wirken eher rabulistisch als klärend. Für ein Projekt, das immerhin mit dem Versprechen aufgegleist wurde, es solle die grösser gewordene Mobilität der Familien bei einem Kantonswechsel erleichtern, ist das nicht sehr Vertrauen erweckend.

Administrative Steuerung oder pädagogische Schulentwicklung

Uneinigkeit scheint auch darüber zu bestehen, ob und in wie weit der Lehrplan 21 zunächst einfach ein Projekt zur koordinierten Steuerung der kantonalen Schulsysteme darstellt und wie weit darüber hinaus auch eine eigentlich pädagogisch motivierte Schulentwicklung in Gang gesetzt werden soll. Aussagen, dass das im Lehrplan 21 inhaltlich Geforderte gar nicht neu und in grossen Teilen längst Praxis sei, stehen im Gegensatz zur Rede vom grössten Entwicklungsprojekt seit der Einführung der Schulpflicht und den Forderungen nach neuen Lehrmitteln und intensiver Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung.

Kantonale Einführung und interkantonal verbindliche Umsetzung

Die Einführung des Lehrplans 21 ist Sache der Kantone, das ist die einheitliche auch juristisch gefestigte Überzeugung und Absicht. Damit ist nun freilich ein schulpraktisch und pädagogisch ernsthaftes Problem verbunden. Denn die Wirkungen, die Folgen und die Nebenfolgen des neuen Lehrplanes hängen sehr viel weniger vom dort beschlossenen Text ab als von der Art seiner Umsetzung. Deshalb sind Aussagen über die Wirkungen und Folgen auch schwer zu kalkulieren. Wir wissen nicht, ob und wie einheitlich die Umsetzung erfolgen wird, ob z.B. die Stundentafeln angepasst werden oder nicht, wie die Kompetenzen gewertet werden, ob sie einheitlich, vergleichend, schulintern, extern schulübergreifend gemessen werden. Wir wissen nicht, ob und wie die Ergebnisse in die Schulzeugnisse eingehen. Auch wissen wir nicht, ob und wie sie für Promotion (Versetzung) und Selektion (Schulübertritte) verwendet werden. Wir wissen auch nicht, wer mit welcher Ausbildung die neu geschaffenen Lernbereiche unterrichten wird, ob das Lehrpersonen für den ganzen Bereich sein werden, oder ob der Unterricht dann doch von verschiedenen Fachlehrpersonen erteilt wird usw. usf. Man fragt sich angesichts der schulpraktischen Bedeutung dieser offenen Fragen, ob die kantonale Schulhoheit, welche als schulpolitisch unumstösslich föderale Grundlage auch dieses Projektes gilt, da nicht doch um der Sache willen in Rutschen kommt, ja eigentlich zwingend kommen müsste. Der Spielraum der Kantone sei nach wie vor gross, die föderale kantonale Bildungshoheit werde davon nicht tangiert, wird in den einzelnen Kantonen mit unterschiedlichen Akzenten betont. Zugleich aber werde man dann schon dafür sorgen, dass die Abweichungen von der sprachregionalen Vorgabe gering bleiben. Solche Aussagen verweisen aber nur auf das schulpolitische Glatteis, das da betreten wird, je näher die praktische Umsetzung rückt und je klandestiner das Thema in der öffentlichen Debatte behandelt wird.

Erweiterte Leistungskontrollen und didaktische Innovation

In vergleichbarer Weise mehrdeutig erscheint dann auch ein eigentliches Kernstück des neuen Lehrplans, die Kompetenzorientierung. Die damit verbundenen Ziele und Absichten schwanken zwischen einer didaktisch methodischen Innovation und der Optimierung einer administrativ schulpolitischen Leistungskontrolle. Für das letztere spricht, dass der Lehrplan 21 in vieler Hinsicht ein Kind des PISA Schocks ist. Er übernimmt die wesentlichen Instrumente der OECD Studie zur vergleichenden Leistungsmessung, die Standards und Kompetenzen. ‚PISA‘ erscheint so als heimliches Muster für die neue interkantonale Schulsteuerung einer ‚evidence based educational policy‘. Vergleichende Leistungsmessungen, insbesondere interkantonale oder gar internationale erfordern eine gewisse Distanz gegenüber den in der Schule konkret vermittelten und gelernten Inhalten. Im Unterschied zu den immer noch stark inhaltsbezogenen Lernzielen traditioneller Lehrpläne werden Kompetenzen, wie sie auch der Lehrplan 21 beschreibt, als weniger themenabhängig und damit besser vergleichbar wahrgenommen. Sie sind professionell auf das Erfordernis besserer Messbarkeit und inhaltneutraler Vergleichbarkeit der Lernergebnisse ausgerichtet. Für die erste Ausrichtung kann ein Verständnis von Kompetenzorientierung stehen, das auf pädagogisch didaktischen Theorien und Überlegungen zu dem, was dort auch ‚vollständige Lernprozesse‘ genannt wird, basiert. Vollständiges Lernen einer Sache nämlich schliesst immer auch die Anwendung des gelernten Wissens und Könnens ein. Das sind zwar keine neuen Einsichten, aber der Anwendungsbezug schulischen Wissens tangiert zweifellos ein methodisch didaktisches Grundproblem schulischen Lernens. Seine Akzentuierung wird deshalb auch als besondere unterrichtsmethodische Herausforderung wahrgenommen.

Solange nicht hinreichend klar ist, wie die auf der Basis der Grundkompetenzen und des neuen Lehrplans basierenden externen und vergleichenden Evaluationen organisiert werden, wie das Bildungsmonitoring konkret durchgeführt wird, in welcher Frequenz und Häufigkeit, flächendeckend oder punktuell, droht die pädagogisch didaktische Innovation der Kompetenzorientierung allein in den Sog externer Kontrollbedürfnisse zu geraten, der mehr der Administration und der Bildungsverwaltung und –politik dient und weniger die Qualität des Unterrichts fördert.

2. Welches sind wesentliche Kritikpunkte am Lehrplan 21?

Konzept und Ausführung in der Kritik

Natürlich muss man bei der Bewertung mancher Kritiken auch berücksichtigen, dass Lehrpläne in der Regel mit sehr hohen, meist allzu hohen praktischen Erwartungen verbunden sind. Sie sind erwartungsüberfrachtet. Ich kann und will hier auch nicht auf einzelne Forderungen aus den Konsultationen eingehen. Wichtiger scheint mir, auf einige grundsätzliche, zwar nicht ganz neue, aber doch deutlicher sichtbar gewordene Kritikpunkte kurz einzugehen. Es sind dies in meinen Augen die folgenden vier:

a. Der Lehrplan 21 ist zu umfangreich, zu komplex und zu differenziert.

b. Der Lehrplan 21 baut auf der Fiktion linearer Lern- und Entwicklungsprozesse auf.

c. Der Lehrplan 21 unterschätzt die Bildungsbedeutsamkeit von Inhalten und Themen.

d. Dem Lehrplan 21 fehlt es an thematischen und pädagogischen Entwicklungsperspektiven für eine Schule von heute und morgen.

a) Überladen in Umfang, Differenzierungsgrad und Komplexität

Der LP 21 ist um Vieles zu umfangreich. Er verleitet dazu, die einzelnen Kompetenzen mechanisch abzuhaken. Da bleiben dann jeweils ein bis zwei Lektionen für eine solche Kompetenz. Es ist nicht ersichtlich, wie ein solches Abhaken von Lernzielen zum nachhaltigen Aufbau von Kompetenzen führen soll. Er lässt der individuellen Anpassung des Unterrichts an die Klasse wenig Spielraum. Eine der Kernfragen jeden Lehrplans, diejenige nach der Bedeutsamkeit der zu behandelnden Inhalte und Stoffe, bleibt unbehandelt. Der LP 21 verleitet so zu thematischer Beliebigkeit. Zusammen mit der Vielzahl der in Klein-Klein fein aufgegliederten Kompetenzen bleibt unklar, was Schülerinnen und Schüler am Ende eines Zyklus wirklich können oder können sollten. Das wird zu Über- und Unterforderungen führen.

b) Fiktionaler Kompetenzaufbau

Die Ausdifferenzierung der Kompetenzen in Kompetenzstufen und Kompetenzkomponenten und Lernschritte unterstellt ein ziemlich lineares Verständnis von Lernen und Entwicklung. Lernen und Entwicklung verlaufen nicht linear und nicht stetig, sondern in Schüben, Wendungen, Regressionen und unerwarteten Progressionen. Der Kompetenzaufbau im Lehrplan 21 ist praktisch ausschliesslich nach kognitiven Schwierigkeitsgraden konstruiert. Er berücksichtigt mehrheitlich weder die Entwicklung von Lernmotivation oder Interesse bei der individuellen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, noch deren unterschiedliche Lebenswelten. Der vielfach gerühmte Kompetenzaufbau über die gesamte Schulzeit ist eine reine Kopfgeburt.

c) Unterschätzte Bildungsbedeutsamkeit der Inhalte

Es ist auch für die Kompetenzen nicht gleichgültig, woran, an welchen Themen und Stoffen man sie erwirbt. Sie prägen das Gelernte. Und mehr noch, sie sind vielfach ein Motiv und Interesse aufbauendes und stabilisierendes Element für den anstrengenden Lernweg. Auch wenn es richtig ist, dass dem Erwerb von nützlichen Kompetenzen, das heisst lebenspraktisch brauchbaren Fertigkeiten und Kenntnissen in der Volksschule der Vorrang zukommt, und Lernen wo möglich immer auch die Anwendung des Gelernten einschliessen müsste, so sollte es in der Schule daneben auch noch Raum geben, anderes zu lernen und zu erkunden, etwas, was bloss interessant, faszinierend und schön ist, oder einfach Freude macht. Natürlich kann man auch, was etwa beim Theaterspielen gelernt wird, in Kompetenzen aufgliedern und abfüllen oder desgleichen die Beschäftigung mit den Dinosauriern und Monstern aller Art, aber macht das wirklich Sinn? Ist es wirklich wichtiger zu wissen und unterscheiden zu können, welche Kompetenzen im Einzelnen beim Lesen oder Erzählen einer Geschichte oder dem Rezitieren eines Gedichtes erworben werden, und ob der Exekution solchen Wissens dann die Lesefreude und den berührenden Sinngehalt der Stoffe zu vergessen oder auch nur hintan zu stellen? Auch, so meine ich, verlangt der ‚pflegliche Umgang mit dem schwindenden Bestand unserer kulturellen Traditionen‘ (H. Lübbe) und der zivilisatorisch erworbenen Üblichkeiten (‚einfache Sittlichkeit‘ heissen sie bei Hegel) eine sorgsame und wertorientierte Auswahl unter den sinnstiftenden und verbindenden kulturellen religiösen, ästhetischen, historischen und sozialen oder politischen Schöpfungen, Überlieferungen und Erlebnissen. Es bringt pädagogisch kaum einen Mehrwert, wenn auch solche Erfahrungen akribisch in Kompetenzen aufgegliedert werden, aber die Auswahl der Stoffe und Themen dem Belieben der einzelnen Lehrperson überlassen bleibt. Eben das müsste hier auch diskutiert werden, wie viel kulturelle und gesellschaftlich geprägte Erinnerungspolitik (man kann das auch Leitkultur nennen) können, wollen und müssen wir uns auch in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft noch leisten?

d) Fehlende pädagogische Entwicklungsperspektive

Der LP 21 vermittelt eine rein technisch lernmethodische Idee von Schule. Ihm fehlt eine kohärente Idee vom Auftrag der Schule angesichts der gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen der modernen und sich beschleunigt verändernden Lebenswelten. Statt eine solche Perspektive zu entwickeln, muss dann bei der Konsultation über Sonderinteressen gestritten werden (Berufswahlvorbereitung, ICT, Ethik und Religion etc.). Es ist politisch und pädagogisch verantwortungslos im Jahre 2013 nach rund zehn Jahren Entwicklungsarbeit einen Lehrplan, der nota bene erst im Jahre 2017/18 (Kt. ZH) eingeführt werden soll, präsentiert zu bekommen, der diese Fragen nicht mal ansatzweise anspricht und das auch noch mit der Begründung, man habe mit dem Lehrplan keine Schulentwicklung angestrebt, sondern allein eine administrative Harmonisierung der Schulsteuerung.

 

3. Wie geht es weiter?

Kosmetische oder substantielle Überarbeitung

Nach der vorgebrachten Kritik im Ganzen und im Einzelnen dieser Konsultation wird eine gründliche Überarbeitung erfolgen müssen, zumal einzelne Kantone wie auch der LCH substantielle Veränderungen fordern. Was das im Einzelnen für das Projekt heisst oder heissen wird, ist (noch) nicht klar. Was sicher geschehen wird, ist eine Anpassung einzelner Kritiken wie beim ICT oder vermutlich auch bei der Berufsvorbereitung und den fächerübergreifenden Kompetenzen. Aus meiner Sicht wären vor allem drei Dinge notwendig:

1) Verzicht auf einen differenzierten Aufbau der Kompetenzstufen

Ein Verzicht auf den differenziert zeitlich getakteten Kompetenzaufbau sollte den Lehrplan entlasten. Das heisst, ich würde für die drei Lernzyklen und die Lernbereiche je nur die obersten Kompetenzziele stehen lassen und auf alle weiteren Differenzierungen und Unterteilungen in Lernstufen verzichten. Anstelle dieser Stufen würde ich klare thematisch stoffliche Vorgaben zu diesen Kompetenzen vorgeben.

2) Klare Vorgaben für die kantonalen Einführungen

Nötig wären dann klare Vorgaben und Entscheidungen für die Einführung und Umsetzung des Lehrplans 21 in den einzelnen Kantonen. Klar hiesse für mich auch, dass explizit gesagt würde, was bei der Umsetzung nicht beabsichtigt ist und was man zum jetzigen Zeitpunkt nicht gemeinsam zu erreichen anstrebt. Also z.B. keine einheitliche Stundentafel für alle Fächer oder nur für einzelne Fächer, wo dies, etwa wie im Sport, von Bundesseite her vorgeschrieben ist. Entweder keine gemeinsame Sprachpolitik zur Anzahl der Fremdsprachen und ihrer Reihenfolge in der Primarschule oder eben eine politische Einigung mit verbindlicher Vorgabe. Dies weiterhin offen zu lassen, ist m.E. nicht zu verantworten nach HarmoS. Einheitlich geregelt sollte auch die Art der Erfassung der Kompetenzen sein, was daran in welchem Umfange und wie gemessen und bewertet wird. Die Regelung der Kompetenzbeurteilung gehörte fixiert samt einer allfälligen Anpassung der kantonalen Promotionsordnungen. Ob und wie weit vergleichende Lernstandserhebungen für individuelle Schulprognosen, Versetzungen und Übertrittsempfehlungen für einzelne Schülerinnen und Schüler genutzt werden können oder sollen, wäre einheitlich zu klären.

3) Erarbeitung eines strategischen Schulleitbildes

Nötig wäre ferner die Erarbeitung eines strategischen Schulleitbildes für die gemeinsame Schulentwicklungs- und Reformpolitik der EDK in den nächsten 10 Jahren. Dazu gehörte eine klare Kommunikation über Einsatz und Nutzung der neuen Steuerungsinstrumente wie vergleichender externer Leistungsmessungen: die beabsichtigten Lernstandserhebungen, die Art der Kommunikation und Nutzung der Daten, die beabsichtigten und erwünschten Formen des Bildungsmonitorings samt der Teilnahme an international vergleichenden Bildungsberichten und Leistungsvergleichen. Auch Aussagen über die Stellung und die Position der Lehrpersonen müssten Teil eines solchen Leitbildes sein. Sind Lehrpersonen, wie der LCH vor Jahren proklamierte, primär Experten für das Lernen, oder sollten sie nicht auch Erziehungsautoritäten sein und vielleicht gar Bildungsfachleute, um damit die ganze Breite ihres Auftrages erfüllen zu können? Welche Konsequenzen hätte ein solches Leitbild der Lehrerschaft für die administrative Governance von Schule, für die Formen und Folgen schulinterner und externer Kontrolle und Evaluation? In ein solches Leitbild gehörten nicht bloss Aussagen über das Gewicht von ökonomisch relevanten Aspekten schulischer Bildung oder technologischer Entwicklungen wie ICT und Medien, sondern auch über das Gewicht kultureller Traditionen, religiöser, nationaler politischer Identitätsbildung.

 Ich halte es für das grösste Manko des vorliegenden Lehrplanentwurfes, dass er zu diesen zentralen Aspekten nationaler Schul- und Bildungspolitik keine kohärenten und expliziten Aussagen macht. Es ist absurd, in einer breiten gesellschaftlichen Konsultation darüber diskutieren zu lassen, welche Schreibkompetenzen am Ende des zweiten Lernzyklus von den Kindern zu erreichen sind oder welche Kompetenzen für die Wahrnehmung und das Verständnis von Bewegung und Geschwindigkeit Jugendliche nach drei oder sechs Jahren Schulzeit erworben haben sollten, und die genannten elementaren schulpolitischen Fragen auszuklammern.

 4. Fazit

Bei Lichte betrachtet, wissen wir heute weniger, wohin die Reise mit unserer Volksschule gehen wird, als vor dem Lehrplan 21. Der Auftrag der Gesellschaft an die Schule ist unklarer und diffuser als vorher. Das ist, gelinde gesagt, ein Versagen der Schulpolitik und der Projektleitung, nicht derjenigen, die diesen Lehrplan in den einzelnen Lernbereichen mit grossem Engagement und mit hoher Professionalität entwickelt haben. Es kann nicht Aufgabe der professionellen und administrativen Experten sein, diese bildungs- und schulpolitischen Entwicklungsfragen zu lösen. Sie hätten sicher auch zu den oben genannten offenen Leitbildfragen Substantielles zu sagen gewusst, aber man hat sie dazu nichts sagen lassen und sie in die Aussagenkäfige eng begrenzter fachlicher Zuständigkeiten und politischer Opportunitäten gesperrt.

Schade!

Der Lehrplan 21 darf und kann nicht das letzte Wort zur Entwicklung unserer Volkschule in den nächsten zwanzig Jahren gewesen sein.

 Rudolf Künzli, Rigi-Kaltbad, 30. 12. 2013

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