Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Riskante Diskursentmischung in der Demokratie

Posted on | Mai 13, 2013 | Kommentare deaktiviert für Riskante Diskursentmischung in der Demokratie

Die D-EDK hat das Institut für angewandte Medienwissenschaft (IAM) der Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaft beauftragt zu prüfen, ob sich der neue Lehrplan 21 sprachlich auch eigne zur öffentlichen Kommunikation. Das kann man einer Notiz auf der Webplattform des Institutes seit dem 07. 05. 2013 entnehmen. http://www.zhaw.ch/de/zhaw/forschung/detailansicht/news/iam-evaluiert-den-text-des-lehrplans-21.html

Das ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Entscheid. Der Entscheid weist zunächst daraufhin, dass Kommunikation für die Akzeptanz und die praktische Umsetzung und Wirksamkeit von Lehrplänen eine grosse Bedeutung hat.  Es ist gut zu wissen, dass die Verantwortlichen für die gewiss grösste Lehrplanreform in der Schweiz dieser Bedeutung Rechnung tragen. Mit ihrem Entscheid für solche professionelle Analyse und Umsetzungshilfe kann auch das Geschäft der Lehrplanung einen weiteren Schritt hin zur Professionalisierung der Schulpolitik verzeichnen.

Das ist die anerkennenswerte Dimension dieses Entscheids. Er hat allerdings auch zwei bedenkenswerte problematische Dimensionen.

Zum einen steht er in einem seltsamen Gegensatz zur bislang praktizierten Praxis einer Politik der Geheimhaltung der Entwicklungsarbeit am Lehrplan. Dass nun kurz vor der angekündigten Vernehmlassung, also der Eröffnung eines demokratischen Beratungs- und Diskursverfahrens der Auftrag an eine Forschungs- und Beratungsstelle ergeht, das Produkt auf seine kommunikative Tauglichkeit zu prüfen,  kann eigentlich nur zweierlei bedeuten: a) der Auftrag bestätigt ein Verständnis von Lehrplanentwicklung als fachinterne administrative Entwicklungsarbeit und b) in der Projektleitung sind selbst Zweifel an der Tauglichkeit ihrer bisherigen Strategie einer apolitisch fachinternen Lehrplanproduktion aufgekommen.

Im ersten Fall soll mit Hilfe der angestrebten Analyse das Ergebnis der Lehrplanentwicklung möglichst wirksam und politisch geschickt kommuniziert werden. Geschickt kommunizieren meint dann primär gegen mögliche Einwände absichern und allfällige Angriffsflächen glätten, die Sprache und Wortgebrauch bieten könnten. Kurz, der Entscheid wäre dann vor allem Ausdruck einer Verkaufsstrategie und weniger eines Willens zur offenen schulpolitischen Diskussion und Verständigung über allenfalls strittige Aspekte. Er zeugte dann weniger von Respekt gegenüber den pädagogischen und schulfachlichen Laien, deren Mitsprache in der Vernehmlassung inszeniert wird, als vom Willen, diese zur Zustimmung zu überreden. Für eine solche Deutung spricht auch der Umstand, dass die Projektleitung diesen nicht ganz unbedeutenden Entscheid selber – bislang jedenfalls – nicht  auf der eigenen offiziellen Webseite des Projektes publiziert hat.  Er findet sich,  wie eingangs erwähnt,  versteckt in einer Verlautbarung der beauftragten Institution.

In zweiter Hinsicht kann der Entscheid unabhängig von seiner sachlichen Nützlichkeit, so kurz vor der Vernehmlassung getroffen, auf eine merkwürdige Scheu  vor der Öffentlichkeit hindeuten. Er käme dann fast einem Offenbarungseid der Projektleitung gleich, mit der gewählten Strategie – in  einem immer noch basisdemokratisch geprägten Lande zumindest – eine  höchst riskante Politik verfolgt zu haben, deren möglicherweise negative Folgen zumindest etwas abgefangen werden sollen.

Nun ist eine Trennung der fachlichen und administrativen Lehrplanentwicklung von der öffentlichen politischen Debatte um Schule, ihren Auftrag und ihre Inhalte keine neue Erfindung. Sie ist im Gegenteil eines der markantesten Ergebnisse schulbürokratischer Differenzierungsprozesse, die mit dem Aufbau der preussischen Bildungsbürokratie im 19. Jahrhundert einsetzte. Der Lehrplanhistoriker Stefan Hopmann hat dafür den Ausdruck „Diskursentmischung“ geprägt. Die Trennung gilt seither vielfach als Erfolgsbedingung schuladministrativer Sachentscheidungen. Im Kontext schweizerischer Schulpolitik freilich hat eine solche Trennung bislang jedenfalls kaum funktioniert. Hier galt vielmehr das basisdemokratische Gebot der Diskursmischung, das heisst der gewollten und beabsichtigten Verständigung von Laien und Experten in öffentlichen Prozessen der Entscheidungsfindung.  Die  schweizerische Institution der Vernehmlassung verdankt sich unter anderem solchem Politikverständnis. Nun ist die akzeptanzfördernde Wirksamkeit von Vernehmlassungen wesentlich davon abhängig, wie weit sie als entwicklungsbedeutsam erfahren und wahrgenommen wird, wie viel Zeit ihr eingeräumt wird und wie deren Ergebnisse verarbeitet werden. Da die Vernehmlassung eine Art ‚Wiedergutmachung‘ des entmündigenden Entzugs von sachlicher Mitsprache ist, werden die Erwartungen an sie umso grösser, je entmischter in unserem Falle die Lehrplanentwicklung organisiert ist. Das gilt jedenfalls dort und solange, als die Trennung von fachlichem Diskurs und öffentlich politischer Verständigung als Expertokratie und/oder zumindest als  demokratietheoretisch problematisch wahrgenommen wird.

Es gehört zu den Besonderheiten des Schul- und Lehrplandiskurses, dass die legitimitätsstiftende Kraft repräsentativer Partizipation, auf welche die Projektleitung mit ihren Hinweisen auf breite Beteiligung der Betroffenen zu setzen scheint, hier in aller Regel nur schwach ist. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Grenzziehung zwischen Experten und Laien nur schwach ausgeprägt ist und auch nur geringe Anerkennung geniesst. Und es hängt zweitens damit zusammen, dass die Adressaten des Lehrplanes, die Lehrerinnen und Lehrer sich durch Ihresgleichen nur sehr bedingt sachlich vertreten fühlen. Wie verschiedene eigene Studien gezeigt haben, kommt die Mitwirkung in einem Lehrplanentwicklungsteam der Administration einer Art Frontenwechsel gleich. Lehrerinnen und Lehrer in Lehrplanprojekten werden von ihren Kolleginnen und Kollegen schnell als Teil der Administration wahrgenommen. Je stärker sie involviert sind, umso mehr schwindet ihre berufsständische Autorität, für ihren Stand auch noch sprechen zu können. Auch dies belastet die geplante Vernehmlassung zusätzlich.

Ob die neue schweizerische Form bürokratischer Differenzierung im Schulbereich, wie sie mit dem Projekt Lehrplan 21 versucht wird,  gelingt, wird sich zeigen. Im Blick auf die kritische öffentliche Wahrnehmung der ‚Geheimhaltungspolitik‘ der Projektleitung hat diese jedenfalls Anlass genug, der Vernehmlassung mit einiger Sorge entgegen zu sehen. Es war und bleibt allemal riskant, die öffentliche politischen Debatte um Schule, ihren Auftrag und ihre Inhalte an die Diskussion um ein mehrhundertseitiges Fachdokument, genannt Lehrplan 21, zu knüpfen. Das zu erkennen, dafür bräuchte es keine medienwissenschaftliche Analyse.

Aarau, Mai 2013

Rudolf Künzli

Das Dilemma nationaler Schulpolitik in Zeiten von PISA und Kompetenzorientierung

Posted on | Mai 7, 2013 | Kommentare deaktiviert für Das Dilemma nationaler Schulpolitik in Zeiten von PISA und Kompetenzorientierung

Kürzlich hat das Züricher Obergericht die Klage einiger Privatschulen abgewiesen. Diese klagten gegen eine Anweisung der Erziehungsbehörden, dass künftig keine Kinder  sesshafter Schweizer  Familien in fremdsprachige Schulen, die sich nicht an die geltenden Zürcher Lehrpläne halten, aufgenommen werden dürfen.

Bemerkenswert an dem Urteil ist zweierlei, a) seine juristische Begründung und b) deren Aufnahme durch die Erziehungsbehörden des Kantons.

Das Gericht hielt fest, auch Privatschulen hätten sich am kantonalen Lehrplan zu orientieren. Es stützt sich dabei auf Bestimmungen des Volksschulgesetzes.  Eine anschliessende, weiterführende Ausbildung der Jugendlichen in der Schweiz sei nur so hinreichend gesichert. Das Gericht begründete seinen Entscheid dann auch damit, dass der Staat ein Interesse daran habe, den hier lebenden Kindern die nationale Kultur, die kantonalen Eigenheiten und insbesondere die deutsche Sprache vertieft zu vermitteln.

Der Entscheid bestätigt und stärkt die rechtliche Stellung und Geltung des kantonalen Lehrplans als verbindliches Dokument für alle Beteiligten im Schulfeld, Behörden, Lehrerschaft und Eltern. In seiner Begründung betont das Gericht vier Aspekte, die im Umkehrschluss auch als Anforderung an Lehrpläne gelesen werden können: (1) Lehrpläne sollen die Kontinuität des Weiterlernens ermöglichen, d.h. Lehrpläne einzelner Bildungsstufen müssen den Übergang in die nächst folgenden und umgekehrt den Anschluss an die vorausgehenden Schulen sicherstellen, also dem Gesamtsystem der Bildungseinrichtungen eines Landes verpflichtet sein, bzw. Rechnung tragen. (2) Sie müssen für die Vermittlung der Landesprache besondere Vorsorge treffen. (3) Lehrpläne sollen die Vermittlung der nationalen Kultur sicherstellen und (4) auch eine Einführung in die kantonalen und regionalen  Eigenheiten vorsehen.

Während die beiden ersten Aspekte unbestritten sein dürften, scheinen drei und vier weniger überzeugend und auch reichlich diffus in einer Gesellschaft mit wachsender kultureller Heterogenität und globaler Orientierung von Markt und Lebensweisen. Zumindest stellen sich hier drei Fragen an: a) was könnten solche Elemente nationaler Kultur und kantonaler Eigenheiten denn sein, b) erfüllen Lehrpläne solche Ansprüche wirklich und c) in wie fern sind das heute noch gerechtfertigte Ansprüche und Erwartungen?

Bei Elementen der nationalen Kultur wird man zunächst an die nationale Geschichte und nationales Brauchtum denken, an das politische System und allenfalls kulturelle Akzente in Literatur, Sach- und Wirtschaftskunde. Seit das öffentliche Bildungssystem zur staatlichen Aufgabe geworden ist und Staaten sich als Nationalstaaten verstanden haben und weiterhin verstehen, ist die Schule immer auch als Instrument der Förderung eines nationalen Bewusstseins genutzt worden. Dieser Erziehungs-,  oder wenn man lieber will, Bildungsauftrag der Schule hat sich bisher auch gegen noch so globale Kompetenzanforderung der Arbeitsmärkte und transnationale politische Einigungs- und Versöhnungsprojekte behauptet. Besonders ausgeprägt ist das dort zu beobachten, wo nationale oder regionale Identitäten erst noch aufgebaut werden wollen oder sich gegen transnationale und überregionale Vereinnahmungen zu behaupten versuchen, wie z.B. in Südosteuropa.

Sollten die Richter hier an einen Lehrplan gedacht haben, in dem eine nationale Leitkultur sich abbilden müsse, dann geriete dieses Argumgent, einmal abgesehen von der konkreten Schwierigkeiten, eine solche in einer offenen Gesellschaften noch zu behaupten, unter das Verdikt, Teil einer ‚violence symbolique‘ zu sein, welche Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in dem französischen Bildungs-, oder hier besser Indoktrinationsprogramm in den 1970er Jahren schon zu erkennen glaubten.

Nun fällt allerdings auf, dass die für das Gericht wesentlichen nationalen und regionalen Kompetenzen, nicht zu denen gehören, die in internationalen Schulleistungstest überprüft werden und deren Ergebnisse mancher Orts als Qualitätsmassstab für das eigene Bildungssystem gehandelt und beschworen werden. Sie gehören auch nicht zu den nationalen Bildungsstandards, die in den verschiedenen Ländern in den letzten Jahren entwickelt wurden.  Man muss sich im Gegenteil bei diesen Grundkompetenzen in den Bereichen, Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen fragen, was an ihnen denn überhaupt national sein könnte oder gar sollte.

Dass man sie beharrlich trotzdem national heisst, muss wohl andere Gründe haben. Kleinere, vernachlässigbare Besonderheiten wie etwa das höhere Gewicht der Orthographie, welches die romanisch sprechenden Kantone in der Schweiz in den nationalen Sprachstandards für ihren Bereich gegen die grössere Fehlertoleranz der deutsch sprechenden Regionen durchsetzen, sind wohl keine hinreichende Begründung des Nationalen oder des Regionalen.  Und überhaupt zeigt ein Vergleich der Lehrpläne weltweit im Kernbereich der geforderten Kompetenzen nur geringe Differenzen. Eigentlich kann das Argument des Gerichts, sofern es sich auf Lehrpläne und curriculare Vorgaben stützt, kaum als sehr überzeugend gelten.

Anders verhält es sich gewiss mit aussercurricularen Bestimmungen wie der Regelung für Ferienzeiten und Feiertage, oder neuerdings so kuriose Verpflichtungen über den Anteil mundartlicher Kommunikation im Kindergarten. Mit curricularen Besonderheiten hat das nur sehr wenig zu tun.  Auch wo auf regionalen Eigenheiten curricular beharrt wird, wie etwa beim Hauswirtschaftsobligatorium, wird man kaum schulpolitischen Eckwerten sprechen können, die eine Schulzulassung hinreichend begründen könnten. Hinter dem Erlass der Bildungsdirektion des Kantons Zürich scheint deshalb kaum das im Urteil angemahnte inhaltlich curriculare ‚nation building‘ zu stehen.

Und die Reaktion der Bildungsdirektion auf den Entscheid des Gerichts scheint etwas anderes anzudeuten. Die Bildungsdirektion plädiert nun nämlich für eine, wie sie das nennt ‚einfache Umsetzung‘. Damit meint sie, so die Erklärung der stellvertretenden Generalsekretärin,  es liege in der Eigenverantwortung der Privatschulen, dass diese in Zukunft nur Kinder aufnehmen, deren Eltern glaubhaft versicherten, ihren Wohnsitz ins Ausland zu verlegen. Die  Bildungsdirektion werde das nur im Rahmen der jährlichen Berichterstattung der Schulen überprüfen, will heissen: wir werden da nicht so genau hinsehen. Ganz offenkundig scheint die Bildungsdirektion von ihrem Erlass und dessen nun gerichtlich vorerst geklärten Geltung selber nicht ganz überzeugt zu sein, entweder weil sie diesen Regionalismus in der Schulpolitik selber für gestrig hält und den Erlass als Konzession an eine konservative Klientel versteht, oder weil sie selber nicht an die national prägende Wirkung ihrer eigenen kantonalen Lehrpläne glaubt oder schlicht, weil sie eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit in der Sache scheut, die ein Streit mit international ausgerichteten Privatschulen nach sich zöge. Aber Regelungen zu erlassen, die man weder durchzusetzen gewillt noch fähig ist,  kann kaum kluge Politik genannt werden. Sie bedient bestenfalls populistische Kräfte und untergräbt die Grundlagen guter Herrschaft.

Das Ganze ist ein auch schönes Beispiel für jene Symbolpolitik, die in Sachen Schule und Bildung eine letzte Klammer zwischen globalen Anforderungen und lokaler, nationaler und regionaler Selbstbehauptung zu bilden scheint.  Dazu passt denn auch der neueste Beschluss des kantonalen Parlamentes im Tessin, den Schweizerpsalm, die nationale Landeshymne für alle Schulen zum obligatorischen Lernstoff zu erklären. Ich möchte das eine ornamentale Schulpolitik nennen. Sie verfehlt das Wesentliche, indem sie einen Schein von Zuständigkeit in der Sache krampfhaft aufrecht zu erhalten sucht.

Aarau im Mai 2013
Rudolf Künzli

Der Slogan von den MINT-Fächern

Posted on | Dezember 7, 2012 | Kommentare deaktiviert für Der Slogan von den MINT-Fächern

Seit rund drei vier Jahren ist MINT in vieler Munde. Man fasst mit dieser Abkürzung den Bereich der Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zusammen. Vor allem im Zusammenhang mit Nachrichten über einen Fachkräftemangel und einen Mangel an Frauen ist von MINT-Berufen die Rede. Es ist zwar nicht so klar, was alles dazu gehört und was nicht, um einen Mangel in diesem Bereich zu beheben, sei jedenfalls möglichst frühzeitig das Interesses an MINT- Themen und MINT-Berufen erforderlich, insbesondere bei Frauen. Der schweizerische Bundesrat hat dazu ebenso einen Bericht mit Empfehlungen verabschiedet wie das deutsche Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung , beide kräftig sekundiert durch die Industrie und Gewerbeverbände. Nun, dieser Fachkräftemangel soll hier nicht Thema sein, obwohl es sich auch lohnte, mal genau hinzusehen, wo und wie gross denn die Lücken sind, die zu füllen wären, zumal wir aus berufenem Munde hören, Lücken auf dem Arbeitsmarkt machten noch längst keinen nachhaltigen Bedarf aus. Hier interessiert die Zuspitzung dieser Diagnosen auf sogenannte MINT-Berufe, die nach den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik benannt sind.

In mehrfacher Hinsicht ist diese Zusammenfassung der MINT-Fächer problematisch. Sie hat keine hinreichende sachliche Grundlage.

Zunächst aber irritiert bei dieser Zusammenfassung der Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik die Wiederkehr einer längst obsolet gewordenen Rede von den zwei Kulturen, einer literarisch intellektuellen und geisteswissenschaftlichen einerseits und einer naturwissenschaftlich-technischen andererseits. Der englische Physiker Charles. P. Snow hat sie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts als eine gesellschaftskritische These formuliert. Irritierend daran ist vor allem, dass diese Gegenüberstellung in vielfacher Weise durch die Entwicklungen in den Wissenschaften selber überholt ist. Der Wissenschaftssoziologe Rudolf Stichweh hat dazu in der FAZ vom 02.12.2008 einen schönen Artikel geschrieben: Man denke an die Sozialwissenschaften, an die Wirtschaftswissenschaften zum Beispiel, aber auch an die Psychologie und viele mehr, deren Forschungsmethoden weitgehend einen  mathematisch-statistischen Unterbau haben. Mit der Rede von den MINT-Berufen wird das verdeckt und ein kulturelles Stereotyp bedient. Das Stereotyp bedient ein anderes naheliegendes populäres Werturteil, das mit MINT nicht bloss die harten, die wirklichen Wissenschaften, den weichen und – wie wir kürzlich aus dem Munde eines Erziehungsdirektors auch hören mussten – die ‚unrentablen‘ Disziplinen gegenüberstellt. Kurz, es sind fatale Konnotationen, die mit der Rede von den MINT-Fächern transportiert werden. So wichtig und nötig die Anstrengungen sind, die unter diesem Namen laufen, so sozial- und kulturpolitisch schädlich ist der Slogan von den MINT-Fächern.

Problematisch ist die pauschale Rede von den MINT-Fächern auch deshalb, weil sie jenes Stereotyp verstärkt, das als Barriere vielen Frauen den Weg in diese Berufe erschwert hat und erschwert. Sie signalisiert einen kulturellen Graben, den es hier zu überspringen gelte und verleitet leicht zu einer zumindest schiefen Diagnose des Frauenmangels in bestimmten Berufen. So ist etwa Psychologie ein besonders beliebtes Fach bei Frauen, obwohl seine heutigen methodischen Grundlagen ein gerüttelt Mass an Mathematik und Statistik erfordern. In der Medizin ist eine Mehrheit der Studierenden weiblich. Soll man nun annehmen, die Medizin oder auch die Pharmazie, für die das gleiche gilt, seien keine naturwissenschaftlichen Fächer oder Berufe?  Ich frage mich, ob mit der Rede von den MINT-Fächern nicht gerade ein Stereotyp verfestigt wird, das im Hinblick auf einen erhofften höheren Frauenanteil abgebaut werden müsste.

Das Stereotyp wirkt auch in der umgekehrten Richtung. Denn analoge Überlegungen drängen sich auf mit Blick auf viele neue IT basierte Berufe, die sich kaum auf Mathematik und Informatik reduzieren lassen. Die Swisscom sucht Mediamatiker, die sprachlich und kommunikativ ebenso versiert und kompetent sind wie technisch mathematisch. Wir sollten aufhören, von den MINT-Berufen zu reden, wenn wir deren Nachwuchs verbreitern möchten. Wir müssten viel eher die ganzheitlich fachliche und berufliche Breite dieser Berufe in ihrer heutigen Gestalt betonen. Mediamatik ist eben kein MINT-Beruf, weil mit dieser Bezeichnung die ebenso wesentlichen ‚weichen‘ Kompetenzen ausgeblendet sind. Vergleichbares gilt z.B. auch für Architekten oder für  Pharmavertreter.

Auch im Hinblick auf die Förderung des frühen Interesses an MINT-Fächern ist die Zusammenfassung diagnostisch wertlos, wenn nicht gar hinderlich. Denn lerntheoretisch wie kognitions- und erkenntnistheoretisch sind die hier zusammengefassten Disziplinen von ganz unterschiedlicher Qualität. Ausserhalb dem genannten gesellschaftlichen Stereotyp von den harten und den weichen Fächern gibt es nur wenig, was die Interessenentwicklung für diese Fächer gemeinsam bestimmte. Es ist ja wenig wahrscheinlich, dass, wer Interesse findet an der Konstruktion eines Elektromotors auch gleich sich begeistern kann für das Sezieren von Kuhaugen oder das Lösen von mathematischen Rätseln.  Auch wer begeistert mit Turtle Geometrie komplexe Körper und Figuren auf dem PC programmiert, wird deshalb nicht auch mit gleicher Freude das ökologische Gleichgewicht am Schulteich beobachten.  Zwar sind solche Kombinationen individuell keineswegs ausgeschlossen, natürlich kann ich auch gleichzeitig mit Freude und Engagement mir meine eigene kleine Sternwarte einrichten und mit Hingabe meine Zeit dem Klavierspiel und dem Studium des Kontrapunktes widmen, aber dass solcher Ausprägung von Interessen auch eine kohärente emotionale und kognitive Grundlage entsprechen würde, ist wenig wahrscheinlich.  Auch wenn Schule und Unterricht immer in der einen oder andern Weise mit Transfer rechnet, so ist dieser doch ein höchst fragiles Theorem. Für die Annahme jedenfalls, dass wir mit einem den MINT-Fächern inhärenten Interessentransfer rechnen könnten, weil die Entwicklung dieser Interessen einem gleichen Muster gehorchten, besteht wenig Anlass. Kurz, das Interesse an MINT ist eine sachlich nicht gerechtfertigte Fiktion, das Interesse an MINT ist in viele verschiedene Interessen aufgefächert.

Will man also fördern, was hier pauschalisierend als MINT-Bereich apostrophiert wird, muss man sich auf ganz unterschiedliche Interessen und ihre Entwicklung einstellen. Statt von der Förderung der MINT-Fächer zu reden,  wäre man wohl besser beraten, man stützte sich dabei auf einigermassen theoretisch ausgewiesene Konzepte, wie das der multiplen Intelligenzen zum Beispiel von Howard Gardner und förderte gezielt die verschiedenen grundlegenden Intelligenzen. Auch wäre zu beachten, dass das Interesse an einzelnen Fächern noch längst keine Berufswahlentscheidung ist.  Die Wahl eines sogenannten MINT-Berufes braucht ebenso wenig ein besonderes Interesse an einem MINT-Fach vorauszusetzen wie umgekehrt das besondere Interesse an Mathematik in einen MINT-Beruf führen muss. Dass wir den Fachkräftemangel im Bereich der Elektrotechniker, Informatiker oder der Maschinenbauer mit einer gezielten Frühförderung eines fiktionalen Interesses an MINT beheben könnten, gehört wohl bald eher zu einer der vielen bildungspolitischen Illusionen, mit denen die Geschichte unserer Schule gepflastert ist, zumal der Arbeitsmarkt noch nie ein guter schulpädagogischer Ratgeber war. Heute sollen es die Informatiker sein, aber morgen sind es vielleicht die Gesundheits- und Pflegeberufe, wenn sie es nicht schon heute sind, die Mangel leiden. Vielleicht sollten wir doch eher dem alten Rat des Gründervaters pädagogischen Disziplin, Johan Friedrich Herbart, vertrauen und seinem Konzept des erziehenden Unterrichts und demgemäss ganz auf die Entwicklung der Vielseitigkeit des Interesses setzen. Da haben das Messen und Vergleichen, das Konstruieren und das Kommunizieren, das Experimentieren und das Reflektieren, das Phantasieren und Beobachten, das Lesen und das Rechnen, das Spekulieren und das Spielen, das Tanzen und das Werken alle gleichermassen Platz. Nachhaltigkeit sollte nicht bloss in der Wald- und Energiewirtschaft gelten, sondern vielleicht mehr noch in der Bildung und hier weniger als Thema, sondern als ein auf diese selbst angewendetes Prinzip bei der Programmplanung.

Rudolf Künzli
Aarau im Dezember 2012

 

Kontrollierte Diskurse

Posted on | November 21, 2012 | Kommentare deaktiviert für Kontrollierte Diskurse

Der Blog ‚Lehrplan unter Verschluss – eine Büchse der Pandora?‘ und einige persönliche Rückmeldungen geben mir Anlass, das Lehrplanentwicklungsverfahren, soweit es öffentlich bekannt und erkennbar ist,  und die im Blog angesprochenen Probleme aus lehrplantheoretischer Sicht etwas weiter ausholend zu analysieren. Ich tue das im Anschluss an meine Analyse‚ „Lehrplan21 – ein bildungspolitisches Projekt?“, die ich auf Einladung der PHZH an deren Forschungstag am 7.10.2011 vortragen durfte. Und ich knüpfe dabei auch an meinen Aufsatz „Der Lehrplan als Auftrag der Gesellschaft an die Schule“ an, den ich im Auftrage der Herausgeber L. Criblez, B. Müller, J. Oelkers für ihren Sammelband „Die Volksschule zwischen Innovationsdruck und Reformkritik“ (Zürich: NZZ Verlag 2011, S. 200-216) verfasst habe.    

Strittig sind Lehrplanentscheidungen allemal. Und wo aus taktischen oder andern Gründen der Streit über Inhalte und Darstellungsformen unter der Decke gehalten, verschoben oder blockiert wird, werden Verfahren Gegenstand des Gesprächs. Hinter verschlossenen Türen von Gremien und Expertentreffen wird dann allerhand vermutet. Vermeidbar ist der „Kampf geistiger Mächte“, wie der führende deutsche Lehrplantheoretiker des letzten Jahrhunderts den Streit um Lehrpläne genannt hat, nicht.

Eine Strategie zur Kontrolle und rationalen Bewirtschaftung dieses ‚Kampfes‘ haben die Bildungsverwaltungen bereits im vorletzten und letzten Jahrhundert entwickelt. Sie trennten ihre fachlich administrative Arbeit sukzessive von den politischen Auseinandersetzungen und Entscheidungsprozessen. Sie hielten sie auch getrennt von innerschulischen Debatten und Problembearbeitungen. Man hat diese bürokratische Kanalisierung des gesellschaftlich wuchernden Diskurses über Schule als ‚Diskursentmischung‘ beschrieben. Dazu gehörte auch, dass die Themen und Gegenstände der Auseinandersetzung in einzelne Bereiche aufgeteilt wurden. Statt alles in einem grossen Lehrplandokument zu regeln, wurden die einzelnen Bereiche wie etwa die Stundentafeln die Gliederung der Schulstufen oder Promotionsregeln in separaten Verfahren bearbeitet. Für die einzelnen Verfahren machte man zunehmend auch spezielle Fachleute verantwortlich; und die erarbeiteten Regelungen wurden in separaten Dokumenten festgehalten. Diese „Planzerlegung“ ermöglichte es, Lehrplanentwicklungen personell zu spezialisieren und zu professionalisieren. So konnte auch der Zugang zu den verschiedenen Diskursen begrenzt und das fachliche Gespräch an inhaltliche Standards und Verfahrensregeln gebunden werden. Solche Ordnungen des Diskurses entlasten das Gespräch von direkten politischen Interessenkonflikten und von ideologischen Kontroversen um Werte und Traditionen. Der gesellschaftliche Streit der Politik und der ‚Laien‘ über Schule und Unterricht kann geführt werden, ohne dass die Praxis von Schuladministration und Unterricht unmittelbar betroffen wird. So jedenfalls die Theorie, die zumindest im preussisch geprägten deutschen Bildungswesen lange Zeit auch ganz gut funktionierte.

In der direkt demokratisch verfassten Gesellschaft der Schweiz mit ihrer traditionell konsensorientierten Problembearbeitung und ihrer Politik der Konkordanz funktionierte bislang diese Diskursentmischung kaum. Im Gegenteil, hier herrscht der Grundsatz der Mischung der Diskurse. Bis vor kurzem, noch vor Einführung von Schulleitungen und externen Evaluatoren wurden die Schulen von Laiengremien geführt, die Lehrpersonen von Laien eingestellt und deren Leistung von Laien und Kollegen beurteilt. Im Grundsatz wenigstens wurde und wird die öffentliche Meinung, die Meinung des Volkes bzw. der Mehrheit auch als kompetente Meinung in Sachfragen anerkannt. Zumal in Fragen von Schule, Erziehung und Bildung gilt der Grundsatz, im Zweifel für das Volk und nicht für die Wissenschaft und die Experten. Selbst von diesen kann man hier mitunter das Lob der Laienkompetenz hören und Aufrufe lesen, in Sachen Erziehung doch dem eigenen „Bauchgefühl“ zu vertrauen. Aber die Sache ist vertrackter, als man meinen könnte.

Längst hat auch hierzulande der Rationalisierungsprozess in Gestalt von Evidence-based-educational-policy und Output-orientierter Governance das Bildungswesen erfasst, bestimmen internationale Trends, Standards und Vergleiche die Schuladministrationen und die Schulentwicklungen. Und so sind denn auch Lehrplanentwicklungen zu hochkomplexen Projekten geworden. Deren Management muss einen diffizilen Ausgleich finden zwischen der geforderten Rationalität und den  älteren Erwartungen an Mitsprache. Denn erst die Zustimmung  von subjektiv und situativ begrenzt Sachkundigen und ‚Laien‘ verleiht administrativen und politischen Entscheidungen Legitimität und Akzeptanz. Dabei liegen subjektive Sachkunde und intersubjektive, die grösseren Zusammenhänge betonende und wertende Expertisen nur zu oft im Widerstreit, zumal in Fragen von Schule und Erziehung. Entscheidungen im Bildungsbereich sind deshalb auf Verständigung und Angemessenheit  und nicht einfach auf ‚Wahrheit‘ unter Experten angewiesen. Das Projekt Lehrplan21 ist ein schönes Beispiel für den hier zu leistenden Ausgleich.

Von Seiten der Lehrplantheorie stehen grundsätzlich zwei klassische Modelle der Lehrplanentwicklung zur Wahl, ein zweckrationales und ein diskursives. Das erste setzt auf eine rationale und wissenschaftsgestützte Konstruktion in Expertengremien, das zweite auf topische Prozesse der Beratung und Entscheidungsfindung, wie sie in Politik und Rechtsprechung geläufig sind. Es ist nicht so, dass die beiden Modelle sich gegenseitig ausschlössen, aber sie setzen je andere Akzente. Nun, der Lehrplan21 ist ein komplexes Projekt, es ist in der Absicht, seine Komplexität zu reduzieren, primär nach dem zweckrationalen Muster konzipiert und organisiert, es enthält aber auch Elemente des topischen diskursiven Musters. Diese sollen den oben angesprochenen Ausgleich von Expertenrationalität und Erwartungen an Mitsprache herstellen und so die Akzeptanz der Ergebnisse sichern. Ich will das etwas genauer darstellen.

Das Lehrplanprojekt steht in enger Verbindung mit drei anderen, grossenteils abgeschlossenen Projekten. Es scheint mir wichtig, das hier inszenierte Zusammenspiel von nationalen und kantonalen Zuständigkeiten und Projekten sichtbar zu machen. Das erste hier relevante Projekt ist das grosse nationale Projekt einer Ergänzung der Bundesverfassung mit einem neuen Bildungsartikel. Es war dies ein lange andauerndes, in den zuständigen Parteien, Gremien und Parlamenten und in der Öffentlichkeit beratenes und diskutiertes politisches Projekt, an dessen Ende am 21. Mai 2006 eine Volksabstimmung stand. Der angenommene Verfassungsartikel forderte u.a. eine nationale Angleichung der kantonalen Besonderheiten im schweizerischen Bildungswesen. Diese Forderung führte u.a. zum HarmoS-Konkordat, einer interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule, das am 14. Juni 2007 von der Plenarversammlung der EDK beschlossen wurde. Die einzelnen Kantone entschieden in Volksabstimmungen darüber, ob sie dem Konkordat betreten wollten. Nachdem das erforderliche Quorum eines Beitritts von mindestens 10 Kantonen erreicht war, wurde das Konkordat am 1. August 2009 in Kraft gesetzt. Schritte zur politischen Umsetzung dieser Vereinbarung sind a) das bereits 2003 gestartete HarmoS-Projekt zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards für die Volksschule und b) die beiden Projekte zur Entwicklung sprachregionaler Lehrpläne, der Plan d’études romands (PER) und für die deutschsprachigen Kantone der Lehrplan21. Die nationalen Bildungsstandards wurden für die Fächer Mathematik, Schulsprache, 1. Fremdsprache und Naturwissenschaften in einem national organisierten und geführten Entwicklungsprojekt von fachdidaktischen Konsortien entwickelt, praktisch erprobt und wissenschaftlich validiert. Die Ergebnisse dieses Projektes wurden vom nationalen Koordinationsorgan EDK  16. Juni 2011 den Kantonen zur Einführung und Umsetzung freigegeben, nicht aber für die Schulen in Kraft gesetzt. Die nun ‚Grundkompetenzen‘ genannten nationalen Bildungsziele sollen in die sprachregionalen Lehrpläne als ‚Zielvorgaben einfliessen‘. (Vgl. Schulpolitik als Sprachübung) Im Projekt Lehrplan21 wird ein solcher Lehrplan für die deutschsprachige Schweiz entwickelt. Im Management dieses Projektes wählte man mehrstufiges Verfahren.

Nach ersten Vorbereitungsarbeiten mandatierte der Lenkungsausschuss der D-EDK am 4. März 2004 eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag, ein Konzept zur Entwicklung eines Deutschweizer Lehrplans für die Volksschule zu erstellen. Diese legte dem Lenkungsausschuss am 20. Mai 2005 ein rund 30seitiges Konzept vor, welches dieser den 21 deutschsprachigen Erziehungsdirektionen, der Projektleitung HarmoS und dem LCH zur Stellungnahme zukommen liess. Die Ergebnisse dieser Konsultation wurden  wiederum dem Lenkungsausschuss am 21. November 2005 zur Beratung und Festlegung des weiteren Vorgehens vorgelegt. Es folgten Abklärungen und Konsultationen und schliesslich Ende 2006 die Einsetzung einer neuen Projektorganisation zur Erarbeitung eines sprachregionalen Lehrplanes für die deutschsprachige Schweiz.

Zunächst wurde ein Grundlagenbericht erarbeitet, welcher die kantonalen Voraussetzungen für einen gemeinsamen Lehrplan sichtete, die Ziele formulierte und zentrale Eckwerte definierte, wie die Fachbereiche und ihre Bezeichnung, den Aufbau des Lehrplans, die Struktur der Zielvorgaben. Der Bericht skizziert auch einen groben Erarbeitungsplan. Nach einer ersten gutachterlichen und verwaltungsinternen Konsultation bei den kantonalen Behörden und den Lehrerverbänden wurde eine zweite Fassung in eine breite öffentliche Vernehmlassung gegeben und deren Ergebnisse in einen Schlussbericht eingearbeitet, den die auftraggebende Versammlung der deutschsprachigen EDK am 18. März 2010 verabschiedete.

Für die nächste Phase wurde das Projekt reorganisiert. Die Projektorganisation wurde ausgebaut und differenziert. Fünf kantonale Erziehungsdirektoren bilden die Steuergruppe. Projektleitung, Fachbeirat, Begleitgruppe und Expertenteams wurden eingesetzt und die Fachbereichteams berufen, die den neuen Lehrplan erarbeiten sollen. Im Fachbeirat sind die gewerblich industrielle Berufsschule, der Schweizerische Gewerbeverband, die Pädagogischen Hochschulen, die Universitäten und der LCH mit ausgewiesenen Persönlichkeiten vertreten, in der Begleitgruppe Vertreterinnen und Vertreter der Kantone und wiederum der LCH. In ein Expertenteam ‚Nahtstelle Sekundarstufe II‘ nahmen 25 Vertreter und Vertreterinnen der abnehmenden beruflichen und allgemeinbildenden Schulen Einsitz. In die Fachbereichsteams wurden zu etwa gleichen Teilen Lehrpersonen und Personen der Fachdidaktik berufen. Als erstes Produkt wurde auf der Basis des Grundlagenberichts das Design oder die Grobstruktur des Lehrplans in einem Arbeitspapier festgelegt, das von der auftraggebenden Plenarversammlung am 28. Oktober 2011 zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Eine Vernehmlassung dazu hat nicht stattgefunden.

Die freigegebenen Informationen aus dem Projekt werden über die Website www.lehrplan21.ch veröffentlicht. Die Website des Projektes besteht m. W. seit Frühjahr 2008. Sie enthält die Informationen zu den Zielen, zum Aufbau,  den Zeitplan und die Organisation des Projektes. Aufgeschaltet sind darin ferner das Mandat, der Grundlagenbericht und das Arbeitspapier über die Grobstruktur des neuen Lehrplanes. 10 knappe Medienmitteilungen über vier Jahre verteilt finden sich hier. Die erste stammt vom 16.06.2008, die jüngste berichtet von der Neuwahl des Präsidenten der Steuerungsgruppe am 31.10.2012. Die zweitjüngste zeigt ein Jahr früher, datiert vom  14. 11. 2011, die Freigabe des Arbeitspapiers zur Grobstruktur an. Und davor, am 16. 06. 2011, nimmt die deutschsprachige D-EDK Stellung zu einer unplanmässig aufgekommenen Kontroverse zur Sexualerziehung in der Schule. Es ist der einzige Text nach Grundlagenbericht und Grobstruktur, in dem eine konkret inhaltliche Lehrplanfrage zur Sprache kommt. Inhaltliche Informationen zum Zwischenstand der Entwicklungen, zu wesentlichen inhaltlichen Kontroversen, Problemstellungen oder Entscheidungen sind keine verfügbar. So gibt es auch keine Informationen darüber, wie und in welcher Form die im Rahmen des HarmoS-Projektes erarbeiteten Grundkompetenzen (Bildungsstandards) in den Lehrplan eingearbeitet werden, ob sie als ganze übernommen oder umformuliert, erweitert oder gekürzt etc. Teil des Lehrplans werden. Kurz, wir wissen nicht genau, was  heisst, die ‚Grundkompetenzen werden als Zielvorgaben in die sprachregionalen Lehrpläne einfliessen‘. Das zu wissen, wäre im Hinblick auf das geplante Bildungsmonitoring wichtig, welches sich wohl primär nach den Grundkompetenzen richten soll und nur indirekt nach den Lehrplänen. Überblickt man den Aufbau und die dürftigen Einträge auf der Webseite, so bekommt man den Eindruck, dass die Projektverantwortlichen das an sich interaktive Medium Internet als eine elektronische Litfasssäule für ihre offiziellen Verlautbarungen und Kundgaben nutzen. Ansätze zu einer hier möglichen Kommunikation und Verständigung über zentrale Lehrplanentscheidungen sind nicht zu erkennen. Selbst reine Sachinformationen unterliegen strenger Kontrolle. Die Fachbereichsteams sind – so die Auskunft – nicht befugt, Informationen zum Stand ihrer Arbeiten nach aussen zu geben.

Man kann das ganze Prozedere professionell und konsequent produkt- und erfolgsorientiert nennen. So könnte zweifellos auch ein Projekt zur Produktion eines attraktiven, umweltfreundlichen und kostengünstigen Automobils organisiert und geführt werden. Nur eben, Lehrpläne sind keine Automobile, sie müssen nicht möglichst unter Ausschluss von Konkurrenz und Öffentlichkeit entwickelt, getestet und dann auf Hochglanz poliert einer staunenden Kundschaft zum Kaufe angeboten werden. Lehrplanprozesse sind gesellschaftspolitische und kulturelle Prozesse. In ihnen werden kluge und breit akzeptierte Antworten auf die Fragen gesucht, was aus dem erreichten Bestand an Werten, Überzeugungen, Wissen und Können tradierenswürdig ist und mit welchen grundlegenden Kompetenzen die nachwachsende Generation für eine unsichere Zukunft kulturell und ökonomisch überlebensfähig qualifiziert ist. Ich bezweifle, dass die im Projekt Lehrplan21 gewählte Informations- und Kommunikationspolitik für das Finden kluger und allgemein überzeugender Antworten auf diese Fragen genügt. Es scheint mir auch dem grossen Potential an Intellekt, Erfahrung und Engagement, das sich im Projekt versammelt hat, nicht angemessen Rechnung zu tragen und dem elementaren Bedürfnis nach Austausch und Verständigung unter den Beteiligten und ihrem Umfeld nicht gerecht zu werden.

Nachvollziehbar und gerechtfertigt ist der Wunsch nach möglichst ungestörter Entwicklungsarbeit, nach Diskursentmischung. Nicht nachvollziehbar aber ist die Ausschaltung, Unterdrückung, Verhinderung oder Vermeidung des öffentlichen Lehrplandiskurses. Auch wenn die Entwicklungsarbeit im Detail sinnvollerweise nicht Gegenstand eines öffentlichen Diskurses sein kann, so wäre ein solcher doch parallel zu führen, zu bedienen, vielleicht gar zu organisieren. Man wird ja nicht annehmen wollen, dass die Diskurse im Zusammenhang mit dem Verfassungsartikel und dem HarmoS Konkordat den öffentlichen Gesprächsbedarf über den Auftrag der Gesellschaft an Schule hinreichend abgedeckt hätten. Nun, man versichert uns, dass weitere substantielle Werte- und Schuldebatten ja vorgesehen seien: „Dieser Lehrplan-Text soll in eine (erste) Form gebracht werden, hinter der die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer stehen, die Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker, der Fachbeirat, die Begleitgruppe der 21 Volksschulämter … und auch die auftraggebenden Kantone: Der Lehrplantext soll von den vom Volk gewählten Vorstehern/innen der Bildungsdirektionen für die Anhörung im Sommer 2013 freigegeben werden.“ Gestützt darauf wolle man dann entscheiden, wie  es weitergehe und bis Ende 2014 den Kantonen eine interkantonale Lehrplanvorgabe vorlegen, welche diese dann in eigener Regie und Verantwortung überarbeiten, anpassen, ergänzen und mit einer Lektionentafel versehen könnten und sollten, um den nun kantonalen Lehrplan in ihre kantonal geregelte Vernehmlassung zu geben.

Das sind kostspielige politische Prozeduren. Man könnte zunächst annehmen, damit seien hinreichend Möglichkeiten und Phasen des öffentlichen Gesprächs gegeben. Indessen garantiert kein noch so rechtskonformes Verfahren schon Akzeptanz für politische Sachentscheidungen, wie etwa das Beispiel Stuttgart21 (sic!) in einem ganz anderen Felde lehren könnte. Ihre Legitimität schaffende Kraft entfalten sie nur, wenn sie auch glaubwürdig sind. Und mit der Glaubwürdigkeit der Verfahren ist es im vorliegenden Fall nicht zum Besten bestellt. Zwar wird mit den kantonalen Vernehmlassungen und Inkraftsetzungen den gegebenen Zuständigkeitsregeln und demokratischen Prozessen in unserm föderalen Bildungssystem Genüge getan, aber dass diese auch als ernsthafte gesamtgesellschaftliche Klärungen des Auftrages an die Schule wahrgenommen werden, muss doch bezweifelt werden. Während sechs Jahren (ohne die Zeit für das Vorlaufprojekt von 2 Jahren und Entwicklungszeit für die Bildungsstandards von rund 8 Jahren mitzurechnen) wird mit grossem Aufwand ein sprachregionaler Lehrplan entwickelt. Er soll soweit präzisiert sein, dass er direkt in den Schulen der einzelnen Kantone  einführbar ist. In ihn werden die nationalen Bildungsstandards eingearbeitet, welche die Grundlage für das wiederkehrende Bildungsmonitoring sein sollen. Dieser ‚fertige’ Lehrplan wird dann mit der ganzen fachlichen und schulpolitischen Autorität der ‚hinter ihm stehenden‘ Schulverwaltungen, Beiräte und Entwicklungsteams den Kantonen (die nota bene zugleich die verantwortlichen Auftraggeber selber sind) zu einer nicht näher bestimmten Anhörung und kantonalen Anpassung weitergereicht, wohl wissend, dass jede substantielle kantonale Veränderung das ganze Unternehmen einer inhaltlichen Harmonisierung unserer Volksschule in Frage stellen müsste. Wie ernsthaft kann eine solche kantonale Vernehmlassung dann noch sein? Auch die andere Legitimität schaffende Komponente, die Beteiligung der direkt betroffenen Lehrerschaft in den Entwicklungsteams ist für sich genommen kaum hinreichend. Sie dient, wie wir aus manchen Lehrplanprojekten wissen, in erster Linie der Qualifikation der direkt Beteiligten, vermag aber in der Regel den Ergebnissen nur wenig Akzeptanz und Brauchbarkeit zu sichern. Im Zweifelsfall entfremden sich die direkt Beteiligten von ihren Berufskollegen in den Schulen und diese von ihnen. Anerkennungskräftig wirkt solche Beteiligung allein durch die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit des Ringens um die richtigen Lösungen, und das heisst durch die  Öffentlichkeit der Kontroversen und Konflikte, die in Lehrplanentwicklung notwendig ausgetragen werden müssen.

So sind in dem gewählten Verfahren manche sich widersprechende Botschaften strukturell eingebaut. Dabei ist gewiss Vieles unserem schweizerischen kooperativen Föderalismus und der Furcht vor zentralen Schulvögten geschuldet. Zu kritischen Einwänden Anlass geben nicht das Engagement und die besten Absichten der Beteiligten. Es sind die im Vorfeld nicht hinreichend analysierten und geklärten Prozessstrukturen, die den Erfolg des Projektes bedrohen können. Der Versuch, die kantonale Schulhoheit zu wahren und gleichzeitig einen interkantonalen Lehrplan unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit in Fachgremien so differenziert auszuarbeiten, dass er in den Kantonen direkt einführbar sein und die nationalen Bildungsstandards enthalten soll, ist in mancher Hinsicht systemsprengend. Unter den gegebenen Umständen hätte sich die Erarbeitung eines nur die grossen Linien des Schul- und Bildungsauftrages skizzierenden interkantonalen Rahmenplanes angeboten. (Vgl. dazu meine Überlegungen im erwähnten Aufsatz ‚Der Lehrplan als Auftrag der Gesellschaft an die Schule‘). Auf der Grundlage eines solchen interkantonal verbindlichen und politisch konsentierten Rahmens wäre eine kantonale, schulregionale oder vielleicht gar schulinterne Ausarbeitung von dann wirklich direkt einführbaren und situationsgerechten (rekontextualisierten) Lehrplänen möglich. Ein solches Verfahren hätte zwei Vorteile, es wäre unseren demokratisch verfassten Strukturen angemessen und die Erarbeitung lokaler Schullehrpläne könnte zugleich als ein tragendes Element jener Schulentwicklung organisiert werden, welche die Einführung von kompetenzorientierten Lehrplänen erfordert. Eine vergleichbare Lösung haben einige deutsche Bundesländer mit der Entwicklung von Kerncurricula als Rahmenvorgaben und in den Schulen selbst zu entwickelnden Schullehrplänen gewählt.

Die Form der für den Lehrplan21 gewählten Lehrplanentwicklung aber gleicht dagegen in vielen Zügen dem, was in den 70er Jahren und bereits in den 50er Jahren in den USA als Curriculumentwicklung praktiziert wurde. Jürgen Habermas hat anlässlich der Verleihung des Hegelpreises in seiner Rede „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“ auch beiläufig das damalige Scheitern der Curriculumrevision in Deutschland, die nota bene höchst professionell konzipiert, organisiert und durchgeführt wurde, analysiert und dazu festgestellt: „Heute müssen die Verwaltungen Curricula planen, ohne sich an Traditionen anlehnen zu können. … Die Curriculumplanung versucht, eine wesentliche Leistung der Tradition, nämlich aus der Menge der zugänglichen Überlieferungen eine legitime Auswahl zu treffen, nun selbst zu übernehmen. Indem sie Lernziele präzisiert, deren Auswahl argumentativ begründet, Lernzielzusammenhänge konkretisiert und in einzelnen Lernschritten operationalisiert, verstärkt die Curriculumplanung den Rechtfertigungszwang gegenüber jener Sphäre, die sich gerade durch ihre Kraft zur argumentarmen Selbstregulierung ausgezeichnet hatte. Aber bei diesem Versuch machen Verwaltungen eine typische Erfahrung: Ihre Legitimation reicht für die neue Aufgabe einer argumentativ gerechtfertigten Auswahl aus kulturellen Möglichkeiten nicht aus. … Vielmehr bedarf es dazu eben jener wert- und normbildenden Kommunikation, die nun unter Eltern, Lehrern, Schülern einsetzen und beispielsweise Bürgerinitiativen auf den Plan rufen. Hier werden die kommunikativen Strukturen eines allgemeinen praktischen Diskurses von selbst hervor getrieben, weil die Traditionsfortbildung aus ihrem naturwüchsigen Medium herausgetreten ist und weil ohne eine argumentativ gefilterte Willensbildung auf breiter Basis ein neuer Wertekonsens nicht erreicht werden kann.“  Und bereits in den 60er Jahren hat der amerikanische Biologe und Curriculumforscher Joseph J. Schwab die damals herrschende Curriculumentwicklung als ‚moribund‘ bezeichnet und stattdessen für eine an der aristotelischen Topik geschulte eklektische deliberative Praxis der öffentlichen Entscheidungsfindung plädiert. Und der andere grosse Curriculumforscher und Kunstpädagoge von der Standford University, Elliot W. Eisner, machte dazu die Anregung, dass in jede Lehrplanentwicklung zwingend Personen eingebunden werden sollten, die das Bildungssystem nicht erfolgreich durchlaufen haben, um so den sich selbst bestätigenden und reproduzierenden inneren Kreis der Schulexperten zu durchbrechen. Es macht ganz den Anschein, als ob die Projektleitung Lehrplanprozesse als rein schulpädagogische und schuladministrative Angelegenheiten versteht und die gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen von Lehrplanprozessen unterschätzt. Lehrplanentscheidungen sind allemal ein Eingriff in das nicht beliebig pädagogisch verfügbare Dispositiv der Verteilung und Organisation des Wissens in einer Gesellschaft. Es sind keine rein pädagogischen, fachdidaktischen oder schulpraktischen Entscheidungen.  Werden sie zu solchen gemacht, werden die grossen Fragen und Kontroversen der Gegenwart ausgeklammert, Schlüsselprobleme nannte sie Klafki, bleibt allein  ein administrativ aufgeplustertes Verfahren zur bürokratischen Schlichtung didaktischer Kontroversen.

Es ist bemerkenswert und etwas befremdlich zugleich, dass ausgerechnet die Schweiz ein doch eher expertenzentriertes und obrigkeitsstaatliches Verfahren wählt, um zu einer Harmonisierung ihrer Volksschule zu kommen. Wir wollen nicht hoffen, dass der Lehrplan21 einen vergleichbaren Nachruf lesen muss, wie ihn Habermas der Curriculumforschung schrieb.

Aarau im November 2012
Rudolf Künzli

Lehrplan 21 unter Verschluss – eine Büchse der Pandora?

Posted on | November 4, 2012 | Kommentare deaktiviert für Lehrplan 21 unter Verschluss – eine Büchse der Pandora?

Die Kantone der Deutschschweiz könnten in diesem Jahr ein Jubiläum feiern: Vor zehn Jahren ertönte der Startschuss zu dem Projekt, das heute unter der Bezeichnung Lehrplan 21 bekannt ist. Was gäbe es zu feiern? Niemand weiss es.

Mit ‚Rauchzeichen vom Lehrplan 21‘ überschreibt Michael Schönenberger seinen Bericht in der NZZ vom 1. November 2012 über eine Verlautbarung der Konferenz der Schweizerischen Erziehungsdirektoren zum Lehrplan 21. Die Überschrift trifft den Sachverhalt vortrefflich. Rauchzeichen gehören zur Kommunikationspolitik des Vatikans, aber auch der Indianer auf dem Kriegspfad.  Dass sich diese Form der Kommunikation halten kann bis in die Schulpolitik des 21. Jahrhunderts  in einem notabene demokratisch verfassten Gemeinwesen in der Schweiz, verdient Beachtung.  Auch wer dabei wirklich Häuptling ist oder kommunikativ nur schlecht beraten, das wissen wir hier wie dort nicht, vor allem nicht bei der Kirche, und jetzt auch nicht bei der Schule.

Blicken wir zurück: Im März 2002 kamen die Erziehungsdirektoren und –direktorinnen der EDK-OST, der NW EDK und der BKZ zusammen, um sich zu einer deutschsprachigen EDK zusammenzuschliessen – unter anderem in der Absicht, einen gemeinsamen Lehrplan für die obligatorische Schule in der Deutschschweiz zu entwickeln. Im Juli 2004 nahm man die Arbeit im Rahmen eines Vorprojekts Deutschschweizer Lehrplan auf. Im Oktober 2011 konnte die inzwischen gegründete D-EDK den Bericht Grobstruktur Lehrplan 21 freigeben. Die Bedeutung des Berichts bestand im Wesentlichen darin, dass die Projektleitung den Aufbau des Lehrplans und die Form der Zielbeschreibung (Kompetenzen) festlegte und publik machte. Im Winterhalbjahr 2011/12 erarbeiteten Fachteams die Fachbereichslehrpläne. Resultat dieser Phase war ein Entwurf Lehrplan 21, der – gemäss einer Medienmitteilung der D-EDK – im  Sommer 2012 mit den kantonalen Erziehungsdepartementen sowie mit Verbänden der Lehrerschaft, Schulleitungen, Eltern- und Schülerorganisationen „diskutiert“ wurde. Der Inhalt dieser  Rückmeldungen ist unter Verschluss,  und es ist nicht einmal bekannt, inwiefern Akzeptanz oder Ablehnung überwiegt. Bekannt ist lediglich, dass die Projektleitung Lehrplan 21 den Entwurf zur Zeit überarbeitet. Im Sommer 2013 soll eine „breite Konsultation“ stattfinden. Es erscheint fraglich, dass es zu diesem späten Zeitpunkt noch möglich sein wird, die Ergebnisse dieser Konsultation – soll sie nicht eine Farce bleiben – in das Projekt einzuspeisen. Denn bereits im Herbst 2014 soll der Lehrplan 21 den Kantonen zur Einführung übergeben werden.

Stossend ist die Geheimniskrämerei. Eine Gruppe von Eingeweihten hat Einsicht in den Entwurf Lehrplan 21 nehmen dürfen – mit dem strikten Verbot verbunden, den Lehrplanentwurf  weiter zu geben. Wenn man das Glück hat, jemanden persönlich zu kennen, der eingeweiht ist und einem einen Blick in das umfangreiche  Dokument gestattet, weiss man zwar, dass das Wort „können“ sehr oft vorkommt, aber wehe, wenn man Genaueres erfahren möchte – selbst wenn man Lehrerin oder Lehrer ist, an einer pädagogischen Hochschule studiert oder dort arbeitet …

Auch ein Artikel in der Sonntagszeitung vom 28.10 2012 bemängelt die fehlende Transparenz: Simone Luchetta beklagt, dass im Lehrplan 21 ICT und Medienbildung als fächerübergreifender Bereich vorgesehen seien, dass jedoch Programmieren oder Informatik gar nicht vorkämen. Das habe ETH-Professoren veranlasst, eine „Bildungskatastrophe“  zu prophezeien. Dieses Aufbegehren habe denn auch „Erfolg“ gezeitigt: Der Geschäftsführer der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, habe versichert, er nehme die Bedenken ernst.

Der Geschäftsleiter der D-EDK begründet die Geheimhaltung damit, dass der Entwurf bei den Erziehungsdirektionen gut abgestützt sein müsse, was dem Unternehmen den unangenehmen Charakter eines Top-down-Projektes verleiht.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die D-EDK und insbesondere die Projektleitung kein Interesse daran haben, eine öffentliche Debatte zu führen über die Inhalte dessen, was Schülerinnen und Schüler in den Schulen der 21 Deutschschweizer Kantone eigentlich lernen sollen. Wohl besehen, im Hinblick auf einen Lehrplan, der in 21 Kantonen und Schulen der Deutschschweiz „direkt einsetzbar“ sein soll, das Potenzial in sich bergen muss, die bestehenden kantonalen Lehrpläne  zu ersetzen und dabei noch Harmonie zu erzeugen – letzteres ungeachtet der nach wie vor bedeutenden kantonalen Unterschiede im Bildungswesen.

Man fragt sich: Fühlen sich die Verantwortlichen einer öffentlichen Diskussion nicht gewachsen? Haben sie kein Vertrauen in die Qualität ihres Produktes? Haben sie Angst vor der Grösse des Projekts? Oder fürchten sie gar das Scheitern des ganzen Unternehmens?

Aber es kann gut sein, dass die neue Politik Erfolg hat, wo selbst die Verbände sich auf diese Form der Erarbeitung des gesellschaftlichen Auftrags an die Schule eingelassen haben. Damit wäre es der EDK gelungen, nach den geleiteten Schulen, den externen Schulevaluationen und den vergleichenden Leistungstests ein weiteres Element des  epochalen Umbaus in der Steuerung unserer Volksschulen vorzunehmen – in Richtung einer von Experten und Administrationen dominierten Schule. Das gemahnt an einen Stil der Steuerung, der in Europa üblich gewordenenist: Politisch legitimierte Institutionen machen Vorgaben ohne Alternativen. Demokratie ohne Volk hat das kürzlich die französische Philosophin  Catherine Colliot-Thélène genannt.

 

Büchse der Pandora von Paul Cesaire Gariot (1811-1880)

Sie nennen es Campus

Posted on | September 20, 2012 | Kommentare deaktiviert für Sie nennen es Campus

Zur Eröffnung der neuen PHZH am Bahnhof Zürich

Mitten im Zentrum steht sie, die neue PHZH, die pädagogische Hochschule Zürich, mit direktem Bahnanschluss, umfriedet von der schweizerischen Bundespost und einer Grossbank. Urban sei sie, die Atmosphäre an der Europaallee mit Shoppingmall, Coffeeshops, Snackbars, Bistros und Kiosken. Es gibt viele Treppen und Stufen aussen und Innenhöfe zum Sitzen, Reden, Essen und Lesen. Die rechteckig hohen Kuben der versammelten Gebäude unterscheiden sich kaum von andern neuen in der Stadt der Banken und Kaufhäuser, solide Einfachheit und vielfach nutzbar, auch zum Studieren, zum Lehren und Lernen. Elegant wird man sie nicht nennen wollen, aber modern und brav, wie es sich hierzulande gehört für eine reiche bürgerliche Gesellschaft.

In die Phantasie greift hier lediglich der Standort, und der ist für einen Ort der Lehrerbildung schon beinahe revolutionär, auch wenn solche Verortungen mittlerweile landauf landab Schule machen. Nichts erinnert noch an die Seminare und Internate für künftige Lehrer und Lehrerinnen unserer Volksschulen und Kindergärten. Alles Ländliche ist hier fern, keine klösterlichen Pflanz- oder Kräutergärten oder Zwetschgenplantagen, auch kein Ökoteich oder dergleichen didaktischer Schnickschnack, kein Wald in der Nähe, in den Rousseau seinen Emile begleiten könnte. Auch die Baracken sind nun weg, die noch von ferne an jene der Zivilisation und ihren Verlockungen weit abgelegenen reformpädagogischen Bildungsstätten mit ihrer Lageratmosphäre erinnern konnten.

Wie eine Beschwörung hört sich dann der Name an, eine Art Merseburger Zauberspruch: Campus. Von Feldern, Wiesen und Auen ist da weit und breit nichts zu sehen. Weder zum Verweilen noch für ein ‚déjeuner en herbes‘ lädt der Ort ein. Und hier zu wohnen, werden Lehrende und Studierende sich kaum leisten können, wenn es denn überhaupt ein Angebot dazu gäbe. Auch bräuchte es sehr viel Beschwörung, bis uns Platos Akademie vor den Toren der Stadt Athen einfiele beim Spurt vom Bahnhof oder vom Tram zum Seminar und nachher wieder pünktlich zum Zug.

Wer noch an der Uni studiert, im Irchel zum Beispiel, dem neuen Hochschulzentrum, mag vielleicht bei einer langen Tramfahrt von hier nach dort ins Grübeln kommen, was das zu bedeuten haben könnte, dass die Volkschullehrer nun in der City ausgebildet werden und die andern Akademiker ganz oben am Waldrand des Zürichberges, wo früher die landwirtschaftliche Schule stand.

Aarau im September 2012  RK

Müssen wir das ertragen?

Posted on | September 5, 2012 | Kommentare deaktiviert für Müssen wir das ertragen?

(RKü) Natürlich könnte man den Fernseher auch ausschalten, aber, hat man den Anfang gesehen, schmerzt auch das absehbar zu Sehende und zu Hörende nachhaltig. Das Deutsche Fernsehen sendet am 2. 9. abends nicht bloss in der ARD den ‚Jauch‘, „Achtung Computer – macht uns das Internet dumm?“
http://www.ardmediathek.de/das-erste/guenther-jauch/achtung-computer-macht-uns-das-internet-dumm?documentId=11612584

das ZDF doppelt diesen öffentlichen Dummheitsdiskurs im neuen ‚Precht‘ mit dem Neurobiologen Gerhard Hüther nach „Macht Lernen dumm?“
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1720560/Macht-Lernen-dumm%253F#/beitrag/video/1720560/Macht-Lernen-dumm%3F/dialog/sendfriend

Der neurowissenschaftlich versierte Psychiater und Psychologe Manfred Spitzer, er hat in den letzten Jahren eine irritierte, aber willige Bildungsöffentlichkeit auf die Zukunft eines neuen Lernens vorbereitet, sass hier bei Jauch auf Werbetour für seinen neuesten Schrei, die unserer Jugend drohende digitalen Demenz. Ungleich seriöser gab sich da Hüther, bevor der unserer Schule als nationaler Bildungstrainer Begeisterung und Neugier empfahl. Um die Gesellschaft vor ihrem Ende zu bewahren, müsse die Schule endlich Abstand nehmen von ihrer überholten Praxis, unnützes und längst fertiges Wissen zu repetieren und zu memorieren. Precht sekundierte eifrig und beflissen mit einer Suada solch angelernten alten und bekannten Wissens über Rousseau, Humboldt und Reformpädagogik.

Die selbsternannten Erziehungs-, Bildungs- und Schulexperten verkündeten ihre ach so neuen Einsichten und Weisheiten bar jeder Nachdenklichkeit und Reflexion, bar jeder Differenzierung, holten den ganz breiten Pinsel und schmierten uns ihre Weisheiten an die Wand wie ungekonnte Tags. Man kann es nicht anders nennen, es waren öffentliche Bildungssudeleien, die uns das öffentlich rechtliche Fernsehen da zumutete.

Unübertroffen allerdings war auch, wie sich die Sendungen und ihre Akteure selbst entlarvten in ihrer peinlichen Dürftigkeit der Gedanken. Die einleitende Feststellung des neuen Fernsehphilosophen qualifizierte alles Kommende in kaum zu überbietender Klarheit und Knappheit. Precht erklärte uns, dass ein Schüler oder eine Schülerin bis zum Abitur rund 100‘000 Unterrichtsstunden habe über sich ergehen lassen, ertragen oder erleiden müssen. Bei solcher Sach- und Rechenkenntnis versteht man erst, was die Herren mit dem Ende der Bildung und in dessen Gefolge auch mit dem Ende der Gesellschaft meinten. Oder ist es nur Ausdruck einer neuen Pädagogik der Neugier und der Begeisterung, wenn die rund 15‘000 Unterrichtsstunden, welche die berühmte Rutter-Studie aus dem Ende der 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wenig spektakulär noch errechnete, bildungsphilosophisch auf 100‘000 aufgeblasen werden? Was braucht es da noch altes Wissen oder Empirie gar? Befreien  wir uns und unsere Kinder doch von solch hinderlichen Sachverhalten und ihrer mühsamen Aneignung. Allerdings fragt man sich dann, ist das nun die mediale Demenz der älteren Herrschaften?

Vom Nutzen und Nachteil der Wissenschaft für die Schule

Posted on | Juli 2, 2012 | 2 Comments

Es gibt viele Reformen im Bildungswesen. Viele halten sie für dringend geboten, manche beklagen sie, sprechen gar von einer ‚Reformitis‘.  Nun, Reformen sind nicht gleich Reformen. Ich möchte hier drei Typen von Reformen unterscheiden: den pädagogisch didaktischen, den strukturellen und den gouvernementalen. Die Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, dass diese Reformen sachlich nicht zusammengehören könnten und nicht in einander greifen würden. Aber sie haben doch ihre je eigene Logik und werden von den Beteiligten und Betroffenen auch unterschiedlich wahrgenommen.  Wie komplex der Zusammenhang der verschiedenen Typen ist, das beschreibt etwa das über 400seitige Gutachten „Qualität entwickeln – Standards sichern – mit Differenz umgehen“ (Bonn, Berlin: 2008). Es wurde im Auftrag der schweizerischen EDK, der deutschen BLK und des österreichischen Bildungsministeriums von Jürgen Oelkers, Kurt Reusser u.a. erarbeitet und stellt das nötige Ineinandergreifen verschiedener Reformarbeiten dar, die mit der Einführung von Bildungsstandards verbunden werden sollen, damit sie schulpraktischen Sinn machen. Was dort im Zusammenhang dargestellt ist, wird in der Praxis als eine Vielzahl je einzelner Reformen wahrgenommen. Diese haben unterschiedliche Träger und Verantwortliche, finden zeitlich versetzt statt und betreffen auch je unterschiedliche Menschen. So wurden die Bildungsstandards von fachdidaktischen Konsortien im Auftrag der EDK entwickelt, die Sprachregionalen Lehrpläne von beauftragten Lehrplankommissionen der regionalen EDKs, ihre Inkraftsetzung und Einführung von den kantonalen Bildungsadministrationen, ihre Umsetzung von Schulteams, das Bildungsmonitoring von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, um nur einige zu nennen. Es ist nicht einfach, weder für Lehrpersonen noch für Politik und Öffentlichkeit, dieses ganze Netzwerk überhaupt wahrzunehmen und in seinen Abhängigkeiten zu verstehen, zumal keine einheitliche Gesamtverantwortung für die verschiedenen Projekte besteht oder erkennbar ist. Umgekehrt fehlt manchen Akteuren der oberen Steuerungsebene oft auch der Blick und die Zuständigkeit für die Vielzahl von Folgearbeiten und nötigen Entwicklungen, welche mit kompetenzorientierten Lehrplänen zum Beispiel verbunden sind, wenn sie denn praktische Wirkung haben sollen.

Pädagogisch didaktische Reformen verändern den schulischen Unterricht, die praktische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen an den Schulen direkt und gehen auch oft von engagierten Lehrpersonen, Schulleitungen und praktisch arbeitenden Pädagogen aus. Manche dieser Reformen werden unterstützt und gefördert, sie werden weiterentwickelt und propagiert von der Bildungsverwaltung. Solche Reformen verlangen vielfach eine innere Umstellung von eingespielten und eingeübten Verhaltensweisen. Umgesetzt werden sie nur dort, wo innere Überzeugungen für sie sprechen. Dann gibt es einen Typ, den ich strukturelle Reformen nennen möchte. Es sind Reformen, die verändern die Rahmenbedingungen des Unterrichts und der pädagogisch erzieherischen Arbeit. Auch sie erfordern eine Veränderung eingespielter Verhaltensmuster, Verfahrensweisen und Erwartungen von vielen Beteiligten. Weil sich die Einzelnen solchen Reformen nicht entziehen können, haben sie einen gewissen Zwangscharakter und sind entsprechend umstritten. Ihre Wirkung auf Unterricht und Erziehung ist indirekt und die mit ihnen verbundenen Absichten sind fragil, weil der Zusammenhang zwischen Strukturen und menschlichem Verhalten und Befinden nicht so ist, dass Erfolg und Misserfolg von den Strukturen allein abhinge. Strukturelle Reformen haben deshalb auch ganz unsichere Erfolgsaussichten.  Schliesslich gibt es die gouvernementalen Reformen. Sie verändern die Art und Weise, wie Politik und Administration die Schule steuern und kontrollieren. Von diesen Reformen soll hier die Rede sein, zumal sie in letzter Zeit vermehrt in die Kritik geraten sind.  Besonders prominent nachzulesen etwa in dem neusten Positionspapier des LCH zur Steuerung von Qualität im Bildungswesen, welches am 16.06.2012 von den Delegierten in St. Gallen verabschiedet wurde (PDF) Beispiele für solche Reformen sind etwa die Einführung von teilautonomen und geleiteten Schulen, die Aufhebung des personenbezogenen Schulinspektorats zugunsten von externen Schulevaluationen, das Bildungsmonitoring oder eben auch die Einführung von Bildungsstandards und die regelmässige vergleichende Überprüfung, ob und inwieweit diese auch erreicht werden. Solche Reformen verbessern zunächst weder Unterricht noch Schule. Sie verbessern allenfalls die Steuerung von Unterricht und Schule, auch wenn sie in der Absicht unternommen werden, Schule und Unterricht selbst zu reformieren. Entsprechend distanziert stehen ihnen die Akteure der schulischen Praxis vielfach gegenüber.

Natürlich sind auch gouvernementale Reformen angebracht und vielfach nötig. Wir haben zweifellos eine enorme Steigerung der sozialen Komplexität in unseren Gesellschaften, hervorgerufen einerseits durch Mobilität und Globalisierung, andererseits durch Individualisierung und kulturelle wie soziale Heterogenität. Für Politik und Administration hat dies die Folge, dass ihre Autorität (natürlich nicht nur ihre, sondern überhaupt jede institutionelle oder Amtsautorität) sich abschwächt. Der Bereich dessen, was selbstverständlich, allgemein anerkannt und plausibel für alle oder doch für eine grosse Mehrheit ist, schwindet dramatisch. Der Begründungs- und Erklärungsbedarf für Entscheidungen im Bildungsbereich nimmt stetig zu, die Gründe für diese oder jene Option vermehren sich ebenso stetig wie die Überzeugungskraft der Begründungen im Einzelnen schwindet.

Politik und Verwaltung reagieren auf die Steigerung solcher Komplexität ihrerseits mit einer Steigerung der Komplexität ihrer Steuerungsinstrumente. Sie tun das mit Hilfe der Wissenschaft und der Schaffung immer komplexerer Entscheidungsprozesse. Ich will das etwas illustrieren. Nehmen wir zunächst, was heute „evidence based educational policy“ heisst, und von unseren Verwaltungen wie ihr Mantra beschworen wird. Evidence based policy meint, dass politische und administrative Entscheidungen und Reformen nur auf der Grundlage von wissenschaftlich methodisch erhobener Daten getroffen und in Gang gesetzt werden sollen und dass deren Erfolg oder Misserfolg ebenso methodisch, stetig und systematisch überprüft werden müsse. Es ist dies eine Variante jenes Management über Kennzahlen, wie es heute in Wirtschaftsunternehmen üblich und auch an Hochschulen gebräuchlich geworden ist. Die Wissenschaften, die dazu bemüht werden, sind nicht die reflektierenden und verknüpfenden der alten artes, der philosophischen Fakultät, sondern die messenden und zählenden der Sciences.

Nun erfordert aber schon die Beschaffung der Daten vielfach eine Intervention in das System dar. In manchen Fällen müssen für die Beschaffung verlässlicher Daten den Schulen Vorgaben gemacht werden, etwa einheitliche und überprüfbare Ziele wie Bildungsstandards, Vergleichstests,  standardisierte Lernaufgaben und dgl. mehr. Weil solche Vorgaben in ihrer grossen Mehrheit dem Zweck möglichst verlässlicher Daten dienen, erfolgt ihre Entwicklung und Implementation aus diesem primären Interesse. So wurden zum Beispiel die operationalisierten Lernziele in den dreissiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA im Rahmen der ersten grossen vergleichenden Langzeitstudie zur Qualität von Schulen auf einer behavioristischen lernpsychologischen Grundlage entwickelt und eingeführt. Man wollte die Lehr- und Lernleistungen von Schulen über mehrere Jahre vergleichen. Um sie vergleichen zu können, wurden diesen zunächst überprüfbare und messbare gemeinsame Ziele vorgegeben, eben die operationalisierten Lernziele. Wie weit die Schulen diese Ziele erreichten, konnte dann exakt gemessen werden. Später wurden diese operationalisierten Lernziele zu Instrumenten erklärt, die auch für die Unterrichtsvorbereitung von Lehrpersonen geeignet, ja unentbehrlich seien und entsprechend im grossen Stil in Lehreraus- und -weiterbildung eingeübt. Ähnliches gilt auch für das europäische Sprachenportfolio, das zur international vergleichenden Einstufung von Sprachkenntnissen entwickelt wurde und nun als Vorgabe für die Entwicklung von Kompetenzmodellen der neuen Lehrpläne propagiert und genutzt wird. In nur leicht abgewandelter Form wiederholt sich dieser Reformverlauf wohl auch für die Bildungsstandards.

Mit den gewonnenen Daten lassen sich weitere administrative Eingriffe und Reformen besser begründen und rechtfertigen. Die Bildungsadministration erhält mit den Zahlen und Messwerten ein breites und schlagkräftiges Arsenal an Argumenten für den schwieriger gewordenen Kampf um öffentliche Anerkennung und Akzeptanz ihrer Reformen. Dadurch wird die Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen nicht einfacher, sondern komplexer. Wissenschaft steigert die Komplexität der sozialen Wirklichkeiten, sie reduziert sie nicht. Denn die ‚Wahrheit‘ statistisch erhärteter Mittelwerte entspricht in vielen Fällen nicht oder nur sehr bedingt der subjektiv wahrgenommenen und gefühlten Wirklichkeit. Unter dem Title „Die Illusion der Statistiker“ konnten wir kürzlich in der NZZ eine Kritik des Mathematikers Thomas Jahnke an den international vergleichenden Schülerleistungstests wie PISA und dem medialen Hype um deren Ergebnisse lesen. Zahlen sind eben keine Fakten, wie Eugen Garfield, der englische Begründer des Science  Citation Index es pointiert formulierte, sie bedürfen der Ergänzung mit Lebensbedeutungen. Auch werden Zahlen nur allzu oft durch immer neue, andere Zahlen oder andere, bisher übersehene Aspekte der Wirklichkeit  wieder revidiert und überholt. Deshalb gewinnt eine data based policy nur scheinbar sichereren Boden. Solch scheinbare Sicherheit einer scientifisch aufgerüsteten Bildungsverwaltung und -politik wird zur Bedrohung des Rechtes auf das eigene subjektive Welterleben. Es stehen sich dann eine instrumentell und methodisch aufgerüstete Empirie und eine ‚sanftere Empirie‘, wie Goethe die Wirklichkeitswahrnehmung mit ‚unbewaffneten‘ Sinnen genannt hat, gegenüber.

Die andere administrative Steigerung von Komplexität geschieht durch Steigerung und Formalisierung direkter Kommunikation und persönlicher Meinungsbildung. Ein Beispiel dafür sind die neuen Evaluations- und Qualitätssicherungsmassnahmen oder die Schaffung von Schulleitungen als neue Ebene der Entscheidung. Es sind dies Prozesse der Professionalisierung, die man auch als Antwort auf gesteigerte Differenzierungserwartungen verstehen kann. Wenn der neue Schulleiter individuelle Personalgespräche führt und Leistungsvereinbarungen mit seinen ihm unterstellten Lehrpersonen trifft, wenn der alte Schulinspektor durch das externe Evaluationsteam ersetzt wird, und seine zufälligen Wahrnehmungen durch standardisierte, objektivierte und systematische  Portfolios, Berichte und methodisch kontrollierte Feedbacks, dann ist das zweifellos ein Fortschritt in der Professionalisierung von Schulführung und Schulaufsicht.  Dass diese auch die Interaktion zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler verbessere, die Lehr- und Erziehungsprozesse, bleibt zunächst  Versprechen, es steigert aber den Bedarf an formaler Interaktion und erhöht die öffentliche Sichtbarkeit der Anstrengungen. Ut aliquid fieri videtur, lautete ein durchaus honoriger Grundsatz antiker Staatsführung und ärztlicher Kunst zur Mobilisierung der Selbstheilungskräfte im System.

So hält die Komplexitätssteigerung der Bildungsadministration Schritt mit der eingangs konstatierten Steigerung sozialer und kultureller Komplexität durch Individualisierung und Globalisierung. Das Problem dabei ist nur, dass solches Wettrüsten die Probleme eher verschärft als dass es sie löste. Es fördert einen Wettbewerb des gegenseitigen Überbietens und schürt den Verdacht, dass es den je andern nicht um die Sache gehe, sondern nur um ihre eigene Selbstbehauptung. Wenn kürzlich der Staatssekretär des neuen Bundesamtes für Bildung, Wissenschaft und Innovation, Mauro Dell‘ Ambrogio auf die Frage, was er als die grösste Gefahr im Bildungswesen ansehe, spontan äusserte, die Entfremdung der Akteure, dann trifft das den hier beschriebenen Sachverhalt exakt, ein wachsendes Misstrauen gegenüber der anderen Meinung im Rahmen einer sich steigernden Komplexität der Probleme und ihrer möglichen Bearbeitung. Niklas Luhmann hat im Vertrauen den massgeblichen Mechanismus zur Reduktion von sozialer Komplexität gesehen. Vertrauen redzuziert soziale Komplexität, Vertrauensverlust steigert sie. Weil wir nicht hoffen können, durch Steigerung von Komplexität die Probleme, welche durch diese Steigerung entstehen, auch überbietend zu lösen, bleibt uns nur die Hoffnung auf die Restitution von Vertrauen und Respekt vor dem andern und seiner Meinung.

Kurz, der Zugewinn an Wirklichkeitswahrnehmung, der mit einer vermessenden Beschreibung unserer Bildungslandschaft gewonnen wird, muss, um nützlich zu sein, in einer neuen Anstrengung kommunikativer Verständigung in Vertrauen transformiert werde.

Rudolf Künzli

Nachgetragenes zur Kompetenzorientierung von Lehrplänen

Posted on | Februar 27, 2012 | 5 Comments

Eigentlich ist dazu alles längst gesagt und geschrieben. Die Kompetenzorientierung von Lehrplänen ist mittlerweile ein historischer Fakt. Auch wenn die Begeisterung und die Debatten über diese Innovation spürbar abgeflaut sind, so ist das Bedürfnis nach Klärung rege geblieben. Auf vielfache Bitte deshalb hier ein kurzer nachgetragener Beitrag.

Traditionelle Lehrpläne beschreiben, was Lehrpersonen zu unterrichten haben. Welches Lernangebot Lehrerinnen und Lehrer den Schülerinnen und Schülern verpflichtend zu machen haben, welche Lernerfahrungen sie machen, womit sie sich beschäftigen sollen. Natürlich sind diese Angaben auch mit Erwartungen verbunden, dass dabei etwas gelernt wird, ein bestimmtes Können erworben wird. Mit diesen Könnens- und Lernerwartungen werden die Vorgaben auch begründet. Sie sind meistens  in Grobzielen formuliert. Könnenserwartungen sind fest gebunden an bestimmte Gegenstände des Unterrichts, die in den Lehrplänen als Inhalte, Fertigkeiten und Haltungen beschrieben werden.

Kompetenzvorgaben beanspruchen mehr zu sein als solch traditionelle Könnens-erwartungen.  Das Konzept der Kompetenzen ist ein lernpsychologisches: Mit ‹Kom- petenzen› wird unterstellt, dass hinter der Fähigkeit, eine begrenzte Anzahl irgendwie vergleichbarer Aufgaben und Probleme zu bewältigen und zu lösen, ein auch mehr oder weniger klar abgrenzbares, übbares und lernbares Können zu identifizieren sei, das sich unabhängig von Situationen auf eine Vielzahl von konkret inhaltlichen Aufgaben und Themen übertragen lasse. Im Unterschied zu den Inhalts- und Lernzielkatalogen tradi- tioneller Lehrpläne bringt die Formulierung von Kompetenzen eine deutliche Lockerung des Verhältnisses von Inhalten und Lernzielen.  Am plausibelsten erscheinen die Rede und die Beschreibung von Kompetenzen für die praktischen Bereiche, wie die beruflichen Kompetenzen, oder technische, handwerkliche und sportliche Kompetenzen. So kann man Fahrradfahren als eine Kompetenz bezeichnen, die unabhängig von der Beschaffenheit des Fahrrades,  des Fahrweges oder des Zweckes (Fortbewegung, Fitnesstraining oder Sport) geübt und praktisch eingesetzt werden kann. Auch wenn man diese Tätigkeit in viele kleinere Einheiten zerlegen kann, wie Anfahren, Anhalten, einhändig fahren etc.. Es macht hier aber wohl keinen Sinn, diese kleineren Einheiten schon Kompetenzen zu nennen. Anders sieht das aus etwa beim Rechnen. Sollen wir das Zählen von 1 bis 10 schon eine Kompetenz nennen, oder macht es erst Sinn von Kompetenz zu reden, wenn damit etwa die Fähigkeit Zahlen zu addieren und zu subtrahieren gemeint ist, oder erst, wenn man diese Fähigkeit auf beliebige Objekte, in beliebigen Situationen anwenden kann, analog zum Fahrradfahren? Noch schwieriger wird es, wenn wir uns in den Bereich des Sach- unterrichts begeben. Was sind hier Kompetenzen? Sind Messen und Experimentieren Kompetenzen, und wenn ja, aus welchen andern Kompetenzen sind sie zusammengesetzt? Und sind Messen und Experimentieren im Bereich der Mechanik andere Kompetenzen als die im Bereich der Biologie? Wie hängen die allenfalls miteinander zusammen, die Kompetenzen im Bereich Musik etwa mit denen des Bereichs Sprache? Noch komplexer wird die Identifikation und Bestimmung solcher Kompetenzen, wenn diese darüber hinaus in eine systematische und zeitliche Abfolge gebracht werden sollen. Bauen die Kompe- tenzen eines Bereiches auf einander auf und zwar so, dass die niederen zwingend vor den höheren erworben werden müssen oder ist es gleichgültig, welche ich zuerst erwerbe? Lassen sich curriculare Lernprozesse so in Kompetenzmodellen abbilden, dass in ihnen trennscharf unterscheidbarer Kompetenzen  in eine mehr oder weniger klare Reihenfolge ihres Erwerbs gebracht werden? Auch haben Kompetenzen, jedenfalls gemäss dem dafür massgeblichen theoretischen lernpsychologischen Konzept, nicht bloss kognitive, sondern  auch noch volitive und emotive Dimensionen. Welche Einstellungen gehören dann etwa zwingend auch zu einer allgemeinen Lesekompetenz?  Man kann die Fragen beliebig erweitern.

Nun sind das gewiss nicht bloss theoretisch bedeutsame Fragen, ihre Beantwortung ist für die Entwicklung von Lehrplänen von grosser Bedeutung. Eine solche Kompetenzorien-tierung macht die Aufgabe von Lehrplanung und Didaktik sehr komplex. Anders als bei der Festlegung von Zielen, Inhalten und Haltungen bei traditionellen Lehrplänen können Kompetenzen, jedenfalls wenn man das zugrundeliegende Konzept ernst nimmt, nicht am runden Tisch ausgehandelt, ausgewählt und angeordnet werden. Sie müssen und sollten in fachdidaktischen und lernpsychologischen Projekten erforscht und geklärt werden.

Wenn vielen Menschen, darunter auch manchen pädagogisch erziehungswissenschaft- lichen Fachleuten bis heute nicht ganz klar geworden ist, worin denn nun der Unterschied zwischen der Formulierung von Lernzielen in den traditionellen Lehrplänen und den Kompetenzen in den neuen Plänen besteht, so liegt das daran, dass bislang die Praxis der Kompetenzentwicklung noch weit mehr der Praxis der traditionellen Lehrplanarbeit gleicht und hinter ihrem theoretischen Anspruch noch weit zurückbleibt, angesichts des Wissens- und Forschungstandes in diesem Feld bleiben muss. Kommt hinzu, dass die Fragen, welche die Kompetenzorientierung aufwirft nicht neu sind. Sie mussten bei jeder Lehrplanung mit dem je verfügbaren methodischen Instrumentarium immer schon beantwortet werden. Auch traditionelle Lehrplanmacher und Lehrplanmacherinnen haben sich die Frage gestellt und beantwortet, was Schülerinnen und Schüler am Ende der zweiten Klasse können müssen, um erfolgreich die Lernaufgaben der dritten und vierten Klasse zu bewältigen, und was sie am Ende der Schulzeit können sollten, um erfolgreich die eine Berufsbildung oder eine weiterführende Schule zu absolieren. Sie haben sich auch die Frage gestellt und beantwortet, was aus lernpsychologischen Gründen zuerst gelernt werden soll und was danach, und wie die Lernbereiche aufeinander abgestimmt werden können, dass sie einander stützen und wie das Können durch Wiederholung gesichert werden kann. Vom Nahen zum Fernen, vom Einfachen zum Komplizierten, vom Ganzheitlichen zum Differenzierten, oder Spiralcurriculum und Sequenzierung lauteten die Chiffren für diese Problemlösungen. Auch und gerade dazu gibt es ein überaus reiches Professionswissen der Praxis. Kein Wunder, dass dann manchem die Kompetenzorientierung eher als alter Wein in neuen Schläuchen erscheint, denn als pädagogischer Fortschritt.  Man kann und muss mit Fug Zweifel haben, ob das Konzept der Kompetenzorientierung schon jene theoretische Reife erreicht hat, dass man es schon als Lehrplanungsvorgabe setzen darf, ob es nicht seriöser wäre, in ihm eine attraktive fachlich, fachdidaktische Forschungsaufgabe zu sehen und es dort erst einmal zu fördern, bevor man es seiner Banalisierung und Veralltäglichung preisgibt.

Es kommt hinzu, dass Kompetenzorientierung  ernst genommen, den curricularen Prozess der Lehrplanentwicklung substantiell verändert. Es macht ihn komplexer und es macht ihn zwangsläufig wissenschaftsnäher, wenn zunächst wohl bloss scheinbar. Realiter und folgenreich aber verschiebt es die Zuständigkeits- und Kompetenzbereiche im Bildungs- bereich.  Die Kompetenzorientierung der Lehrpläne ist für die Fachdidaktiken und das pädagogische Establishment in den Schuladministrationen ein willkommenes Feld, sich zu entwickeln und zu profilieren. Lehrplanarbeit war traditionell Lehrerarbeit. Sie wird neu zu einer Domäne der Experten in Hochschule und Verwaltung, auch wenn diese sich aus Gründen der Akzeptanz bemühen werden, die unterrichtende Lehrerschaft in die Arbeit einzubinden.  Wenn man es etwas zugespitzt in einem Bilde ausdrücken will, kann man sagen, unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer werden von Software-Entwicklern zu Soft- ware-Nutzern.  Es ist wenig sinnvoll und erfolgversprechend,  die Lehrerschaft der Volks- schule für die Entwicklung von Kompetenzmodellen und die dafür erforderlichen Methoden zu qualifizieren. Es käme dies der Aufforderung gleich, die Hausärzte direkt mit Operations- besteck und der Einrichtung bildgebender Verfahren für ihre Diagnosen auszustatten.  Ob das allerdings eine zu begrüssende Entwicklung ist, muss man bezweifeln, zumal sie auch die Chancen der Öffentlichkeit minimiert, an diesen zentralen Steuerungsprozessen noch aktiv teilzunehmen.

Allerdings enthält die Kompetenzorientierung von Lehrplänen auch eine versteckte symbolische Botschaft. Statt der Lehrerschaft zu sagen, was sie zu lehren hat, wird sie verantwortlich dafür gemacht, dass Schülerinnen und Schüler in ihrem Unterricht die geforderten Kompetenzen auch erwerben können. Vielleicht ist das der gute Sinn und vernünftige Kern der Neuerung.

Rudolf Künzli

Schulpolitik als Sprachübung:

Posted on | November 2, 2011 | 2 Comments

„Frei geben“, „einfliessen“ und „einarbeiten“

(R. Künzli) Worte können vielsagend sein. Auch die von Mitteilungen und Verlautbarun-gen. Besonders die einfachen, die vor Klarheit so sehr glänzen, dass sie uns blenden. Als die Eidgenössische Erziehungsdirektoren Konferenz am 16. Juni dieses Jahres die Bildungsstandards für die Schulsprache, die Mathematik, die Fremdsprache und die Naturwissenschaften beschloss, verkündete sie diesen Beschluss mit den Worten: „Frei gegeben von der EDK Plenarversammlung“. Dabei muss man nun wissen, dass diese ‚ersten nationalen Bildungsstandards für die obligatorische Schule‘ eine Umsetzung des Auftrages von Artikel 7 des HarmoS-Konkordates sind. Für Kantone, welche diesem Konkordat beigetreten sind oder noch beitreten, sind sie eine verbindliche Vorgabe für die Ziele ihrer kantonalen Volksschulen. Ihre Verbindlichkeit für alle Kantone beruft sich explizit auf den neuen Artikel 62 der Bundesverfassung. Dieser Artikel  droht den Kanto-nen, sollten sie sich nicht ‚auf dem Koordinationsweg‘ über gemeinsame ‚Ziele der Bildungsstufen‘ einigen, mit dem Erlass der ‚notwendigen Vorschriften‘ durch den Bund. Vor diesem Hintergrund erhält das schöne Wort vom ‚frei geben‘ einen ganz eigenen Glanz. Da werden uns also zwingende Vorgaben frei gegeben, die wir nun nutzen und geniessen dürfen! Dass man solches auch so kommunizieren kann, darauf muss man erst einmal kommen. Dass die neue Rechtschreibung keinen Unterschied mehr erlaubt zwischen freigeben und frei geben, gehört zum orthographisch geborgten Tiefsinn der Wendung.
Ähnlich kreativ geht es weiter. Die nationalen Bildungsstandards sind zu ‚Grundkompe-tenzen‘ geworden. Die ‚Standards‘ sind in den Untertitel gewandert, und so fällt der Zweck des Unternehmens nicht mehr so unvermittelt mit der Türe ins Haus. Aber solche Verhöflichung der Sprache irritiert mehr, als dass sie einnimmt für die Sache. Es geht einem dann wie so oft, wo nackte Wahrheit allzu verkleidet daher kommt: man merkt die Absicht und ist verstimmt.
Indessen werden wir weiter getröstet, vertröstet gar: Die Standards oder Grundkompe-tenzen sind ja gar nicht ‚direkt für die Schulpraxis gedacht‘, heisst es da. Bloss als Ziel-vorgaben sollen sie ‚einfliessen‘ in die sprachregionalen Lehrpläne. Nicht von ‚ein-setzen‘, ‚in Kraft setzen‘ oder gar von ‚ersetzen‘ ist hier die Rede, nein, die Vorgaben kommen viel geschmeidiger daher, gleichsam als flüssiges Element, nicht widerständig, sondern umspülend, sich anschmiegend.
So sind denn nun die Lehrplanmacher und Lehrmittelautoren angesprochen, nicht die Schulen, nicht die Lehrer, auch nicht die Eltern oder Schüler gar, wenn es um die Um-setzung dieser Zielvorgaben geht. Ihnen freilich wird gesagt, sie sollen sie ‚einarbeiten‘ in den Lehrplan21 zum Beispiel. Was da einfliesst, soll also bearbeitet werden. Was das heisst, bleibt hier vorderhand genauso offen, wie die andere Frage, woran dann dereinst gemessen und verglichen werden soll, was Schülerinnen und Schüler gelernt haben, an den Zielvorgaben oder den eingearbeiteten Lehrplanzielen, diesen neuen Standard-derivaten, wie man die eingeflossenen und abgeleiteten Konstrukte zeitgemäss auch benennen könnte.
So haben wir nun die Zielvorgaben und haben sie doch nicht. Sie müssen ja noch einge-arbeitet werden, geformt und zum Lehrplan, zum Lehrmittel geknetet. Denn wer weiss, was daraus entsteht? So müssen wir uns wohl noch auf allerhand gefasst machen, und wie bei Kindern, denen man Plastilin, jenen andern beliebten bunten Bildungsstoff gibt, man weiss nicht recht, soll man sich auf ein ansehnliches Ergebnis freuen oder sich einfach mal an ihrem Kneten ergötzen. Fürs erste wünschen wir dem Projektteam viel Freude beim Kneten, pardon, beim ‚Einarbeiten‘ der Grundkompetenzen.

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